Die Geschwister | Page 3

Johann Wolfgang von Goethe
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Die Geschwister (1776) Ein Schauspiel in einem Akt Johann Wolfgang
Goethe

Personen: Wilhelm, ein Kaufmann Marianne, seine Schwester Fabrice
Briefträger

WILHELM (an einem Pult mit Handelsbüchern und Papieren). Diese
Woche wieder zwei neue Kunden! Wenn man sich rührt, gibt's doch
immer etwas; sollt' es auch nur wenig sein, am Ende summiert sich's
doch, und wer klein Spiel spielt, hat immer Freude, auch am kleinen
Gewinn, und der kleine Verlust ist zu verschmerzen. Was gibt's?
(Briefträger kommt.)
BRIEFTRäGER. Einen beschwerten Brief, zwanzig Dukaten, franko
halb.
WILHELM. Gut! sehr gut! Notier Er mir's zum übrigen.
(Briefträger ab.)
WILHELM (den Brief ansehend). Ich wollte mir heute den ganzen Tag
nicht sagen, daß ich sie erwartete. Nun kann ich Fabricen gerade
bezahlen und mißbrauche seine Gutheit nicht weiter. Gestern sagte er
mir: Morgen komm' ich zu dir! Es war mir nicht recht. Ich wußte, daß
er mich nicht mahnen würde, und so mahnt mich seine Gegenwart just
doppelt. (Indem der die Schatulle aufmacht und zählt). In vorigen
Zeiten, wo ich ein bißchen bunter wirtschaftete, konnt' ich die stillen
Gläubiger am wenigsten leiden. Gegen einen, der mich überläuft,

belagert, gegen den gilt Unverschämtheit und alles, was dran hängt; der
andere, der schweigt, geht gerade ans Herz und fordert am dringendsten,
da er mir sein Anliegen überläßt. (Er legt Geld zusammen auf den
Tisch.) Lieber Gott, wie dank' ich dir, daß ich aus der Wirtschaft heraus
und wieder geborgen bin! (Er hebt ein Buch auf.) Deinen Segen im
kleinen! mir, der ich deine Gaben im großen verschleuderte.--Und
so--Kann ich's ausdrücken?--Doch du tust nichts für mich, wie ich
nichts für mich tue. Wenn das holde liebe Geschöpf nicht wäre, säß' ich
hier und verglich' Brüche?--O Marianne! wenn du wüßtest, daß der,
den du für deinen Bruder hältst, daß der mit ganz anderm Herzen, ganz
andern Hoffnungen für dich arbeitet!--Vielleicht! --ach!--es ist doch
bitter--Sie liebt mich--ja, als Bruder--Nein, pfui! das ist wieder
Unglaube, und der hat nie was Gutes gestiftet. --Marianne! ich werde
glücklich sein, du wirst's sein, Marianne!
(Marianne kommt.)
MARIANNE. Was willst du, Bruder? Du riefst mich.
WILHELM. Ich nicht, Marianne.
MARIANNE. Stiert dich der Mutwille, daß du mich aus der Küche
hereinvexierst?
WILHELM. Du siehst Geister.
MARIANNE. Sonst wohl. Nur deine Stimme kenn' ich zu gut,
Wilhelm!
WILHELM. Nun, was machst du draußen?
MARIANNE. Ich habe nur ein paar Tauben gerupft, weil doch wohl
Fabrice heut abend mitessen wird.
WILHELM. Vielleicht.
MARIANNE. Sie sind bald fertig, du darfst es nachher nur sagen. Er
muß mich auch sein neues Liedchen lehren.
WILHELM. Du lernst wohl gern
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