Die Aufzeichnungen des Malte Laurid Brigge | Page 9

Rainer Maria Rilke
worden ist, obwohl sie leiden und handeln und sich nicht
zu helfen wissen.
Es ist lächerlich. Ich sitze hier in meiner kleinen Stube, ich, Brigge, der
achtundzwanzig Jahre alt geworden ist und von dem niemand weiß. Ich
sitze hier und bin nichts. Und dennoch, dieses Nichts fängt an zu
denken und denkt, fünf Treppen hoch, an einem grauen Pariser
Nachmittag diesen Gedanken:

Ist es möglich, denkt es, daß man noch nichts Wirkliches und
Wichtiges gesehen, erkannt und gesagt hat? Ist es möglich, daß man
Jahrtausende Zeit gehabt hat, zu schauen, nachzudenken und
aufzuzeichnen, und daß man die Jahrtausende hat vergehen lassen wie
eine Schulpause, in der man sein Butterbrot ißt und einen Apfel?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz
Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens
geblieben ist? Ist es möglich, daß man sogar diese Oberfläche, die doch
immerhin etwas gewesen wäre, mit einem unglaublich langweiligen
Stoff überzogen hat, so daß sie aussieht, wie die Salonmöbel in den
Sommerferien?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß die ganze Weltgeschichte mißverstanden worden ist?
Ist es möglich, daß die Vergangenheit falsch ist, weil man immer von
ihren Massen gesprochen hat, gerade, als ob man von einem
Zusammenlauf vieler Menschen erzählte, statt von dem Einen zu sagen,
um den sie herumstanden, weil er fremd war und starb?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß man glaubte, nachholen zu müssen, was sich
ereignet hat, ehe man geboren war? Ist es möglich, daß man jeden
einzelnen erinnern müßte, er sei ja aus allen Früheren entstanden,
wüßte es also und sollte sich nichts einreden lassen von den anderen,
die anderes wüßten?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß alle diese Menschen eine Vergangenheit, die nie
gewesen ist, ganz genau kennen? Ist es möglich, daß alle
Wirklichkeiten nichts sind für sie; daß ihr Leben abläuft, mit nichts
verknüpft, wie eine Uhr in einem leeren Zimmer--?

Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß man von den Mädchen nichts weiß, die doch leben?
Ist es möglich, daß man 'die Frauen' sagt, 'die Kinder', 'die Knaben' und
nicht ahnt (bei aller Bildung nicht ahnt), daß diese Worte längst keine
Mehrzahl mehr haben, sondern nur unzählige Einzahlen?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß es Leute giebt, welche 'Gott' sagen und meinen, das
wäre etwas Gemeinsames?--Und sieh nur zwei Schulkinder: Es kauft
sich der eine ein Messer, und sein Nachbar kauft sich ein ganz gleiches
am selben Tag. Und sie zeigen einander nach einer Woche die beiden
Messer, und es ergiebt sich, daß sie sich nur noch ganz entfernt ähnlich
sehen,--so verschieden haben sie sich in verschiedenen Händen
entwickelt. (Ja, sagt des einen Mutter dazu: wenn ihr auch gleich immer
alles abnutzen müßt.--) Ach so: Ist es möglich, zu glauben, man könne
einen Gott haben, ohne ihn zu gebrauchen?
Ja, es ist möglich.
Wenn aber dieses alles möglich ist, auch nur einen Schein von
Möglichkeit hat,--dann muß ja, um alles in der Welt, etwas geschehen.
Der Nächstbeste, der, welcher diesen beunruhigenden Gedanken gehabt
hat, muß anfangen, etwas von dem Versäumten zu tun; wenn es auch
nur irgend einer ist, durchaus nicht der Geeignetste: es ist eben kein
anderer da. Dieser junge, belanglose Ausländer, Brigge, wird sich fünf
Treppen hoch hinsetzen müssen und schreiben, Tag und Nacht. Ja er
wird schreiben müssen, das wird das Ende sein.
Zwölf Jahre oder höchstens dreizehn muß ich damals gewesen sein.
Mein Vater hatte mich nach Urnekloster mitgenommen. Ich weiß nicht,
was ihn veranlaßte, seinen Schwiegervater aufzusuchen. Die beiden
Männer hatten sich jahrelang, seit dem Tode meiner Mutter, nicht
gesehen, und mein Vater selbst war noch nie in dem alten Schlosse
gewesen, in welches der Graf Brahe sich erst spät zurückgezogen hatte.
Ich habe das merkwürdige Haus später nie wiedergesehen, das, als
mein Großvater starb, in fremde Hände kam. So wie ich es in meiner

kindlich gearbeiteten Erinnerung wiederfinde, ist es kein Gebäude; es
ist ganz aufgeteilt in mir; da ein Raum, dort ein Raum und hier ein
Stück Gang, das diese beiden Räume nicht verbindet, sondern für sich,
als Fragment, aufbewahrt ist. In dieser Weise ist alles in mir
verstreut,--die Zimmer, die Treppen, die mit so großer Umständlichkeit
sich niederließen, und andere enge, rundgebaute Stiegen, in deren
Dunkel man ging wie das Blut in den Adern; die Turmzimmer, die
hoch aufgehängten Balkone, die unerwarteten Altane, auf die man von
einer kleinen Tür hinausgedrängt wurde:--alles das ist noch in mir und
wird nie aufhören, in mir zu sein. Es ist, als wäre das Bild dieses
Hauses aus unendlicher Höhe in mich hineingestürzt und auf meinem
Grunde zerschlagen.
Ganz erhalten ist in meinem Herzen, so scheint es mir, nur jener Saal,
in dem wir uns zum Mittagessen zu versammeln pflegten, jeden Abend
um sieben Uhr. Ich habe diesen Raum niemals bei Tage gesehen, ich
erinnere
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