Die Abtissin von Castro | Page 8

Stendhal
hat, spricht man nur in drei St?dten, in Florenz, in Siena und in Rom, ungef?hr so wie man schreibt; in allen andren Orten ist die Schriftsprache von der mündlichen Rede unendlich weit entfernt.
Das, was man die italienische Leidenschaft nennt, das hei?t die Leidenschaft, die sich zu befriedigen und nicht nur dem Nachbar eine prachtvolle Vorstellung von sich selber zu geben sucht, beginnt mit der Entstehung der Gesellschaft also im zw?lften Jahrhundert und erlischt wenigstens in der guten Gesellschaft, um 1734. Zu dieser Zeit kommen die Bourbonen in Neapel zur Regierung, und zwar in der Person des Don Carlos, Sohnes einer Farnese, die in zweiter Ehe mit dem Enkelsohn Ludwigs XIV., jenem melancholischen Philipp V. verheiratet war, der mitten im Kugelregen seinen Gleichmut nicht verlor, sich stets langweilte und die Musik so leidenschaftlich liebte. Man wei?, da? ihm vierundzwanzig Jahre hindurch der g?ttliche Kastrat Farinelli t?glich drei Lieblingsweisen vorsang, jeden Tag die gleichen.
Ein analytischer Geist k?nnte aus den Einzelheiten einer Leidenschaft feststellen, ob der Fall in Rom oder in Neapel geschehen ist, und nichts ist, wie ich sagen mu?, abgeschmackter als jene Romane, die ihren Personen nichts als italienische Namen geben. Sind wir denn nicht darin einer Meinung, da? die Leidenschaften sich ?ndern, so oft man hundert Meilen weiter nach Norden kommt? H?chstens kann man sagen, da? jene L?nder, die seit langem der gleichen Regierungsform unterstehn, in den sozialen Gewohnheiten eine Art ?u?erer ?hnlichkeit aufweisen.
Wie die Leidenschaften, wie die Musik, wechseln auch die Landschaften, sobald man drei oder vier Breitengrade weiter nach Norden kommt. Eine neapolitanische Landschaft würde in Venedig absurd erscheinen, w?re es nicht, sogar in Italien ausgemacht, die Natursch?nheiten Neapels zu bewundern. Wir in Paris halten es darin so, da? wir glauben, der Anblick der W?lder und der bebauten Ebenen sei ganz der gleiche in Neapel wie in Venedig, und wir m?chten am liebsten, da? zum Beispiel Canaletto die gleichen Farben h?tte wie Salvatore Rosa.
Ist es nicht der Gipfel der L?cherlichkeit, wenn eine englische Dame, die mit allen Vorzügen ihrer Insel ausgestattet, aber selbst auf dieser Insel dafür bekannt ist, da? sie au?erstande sei, die Liebe und den Ha? zu schildern, wenn, sage ich Mrs. Anne Radcliffe den Personen eines ihrer berühmten Romane italienische Namen und gro?e Leidenschaften gibt?
Ich werde nicht versuchen, der Einfachheit und der manchesmal absto?enden Roheit der nur zu wahren Erz?hlung, die ich der Nachsicht des Lesers empfehle, Anmut zu verleihen. Ich werde zum Beispiel die Antwort der Herzogin von Palliano auf die Liebeserkl?rung ihres Vetters Marcello Capecce ganz w?rtlich übersetzen. Diese Monographie einer Familie befindet sich, ich wei? nicht warum, am Ende des zweiten Bandes einer handschriftlichen Geschichte von Palermo, über die ich keine n?heren Angaben machen kann.
Diese Erz?hlung, die ich zu meinem Bedauern sehr kürze -- ich unterdrücke eine Fülle von bezeichnenden Umst?nden -- enth?lt mehr die letzten Schicksale der unglücklichen Familie Carafa, als die interessante Geschichte einer bestimmten Leidenschaft. Die literarische Eitelkeit sagt mir, da? es mir nicht unm?glich gewesen w?re, das Interesse an manchen Situationen zu steigern, wenn ich ausführlicher gewesen w?re, wenn ich erraten und dem Leser mit allen Einzelheiten erz?hlt h?tte, was die Personen empfanden. Aber bin ich, ein junger Franzose, im Norden, in Paris geboren, denn wirklich sicher, zu erraten, was diese italienischen Menschen des Jahres 1559 fühlten? Ich kann ja h?chstens das zu erraten hoffen, was den franz?sischen Lesern von 1838 elegant und spannend vorkommt.
Die leidenschaftliche Art der Italiener um 1559 wollte Taten und nicht Worte. Man wird darum in der folgenden Erz?hlung sehr wenig Konversation finden. Das ist für diese Geschichte insofern ein Nachteil, als wir uns so sehr an die langen Gespr?che unsrer Romanhelden gew?hnt haben, für die eine Konversation genau so viel ist wie eine Schlacht. Meine Erz?hlung oder vielmehr übersetzung zeigt eine sonderbare, durch die Spanier in die italienischen Sitten eingeführte Eigenart. Ich bin nirgends aus der bestimmten Haltung des übersetzers hinausgetreten. Die getreue Wiedergabe der Art des Fühlens im sechzehnten Jahrhundert und auch der Erz?hlungsweise des Chronisten, der allem Anschein nach ein Edelmann aus dem Gefolge der unglücklichen Herzogin von Palliano war, macht meines Erachtens nach den Hauptvorzug dieser tragischen Geschichte aus -- wenn überhaupt irgendein Vorzug daran ist.
Die strengste spanische Etikette herrschte am Hofe des Herzogs von Palliano. Man mu? sich erinnern, da? jeder Kardinal und jeder r?mische Fürst einen Hof hielt, und man kann sich einen Begriff davon machen, welches Bild Rom im Jahre 1559 bot. Nicht ist auch zu vergessen, da? es die Zeit war, wo der K?nig Philipp II., der für seine Intrigen die Stimmen zweier Kardin?le brauchte, jedem von ihnen eine Rente von 200 000 Livres in geistlichen Pfründen gab. Obgleich Rom ohne nennenswerte Arme war, bildete es den Mittelpunkt der Welt. Paris war im Jahre 1559 eine Stadt freundlicher Barbaren.
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Wenn auch Gianpietro Carafa aus einer der vornehmsten Familien des K?nigreichs Neapel stammte, hatte
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