weiterzuleben; wir sitzen still und warten, bis eins nach dem anderen
abbröckelt."
Neben der adeligen und bürgerlichen wird die Zersetzung der
bäuerlichen Formenwelt nur von der materiellen Seite episch
bedeutsam gestaltet durch Wilhelm von Polenz' "Büttnerbauern" (1895)
und Peter Roseggers "Jakob der Letzte". Diese äußere Not der
bäuerlichen Welt ist durch die wirtschaftliche Entwicklung behoben,
ihrer inneren Zersetzung, die da und dort merkbar wird (vgl. Josef
Ruederers Komödie "Die Fahnenweihe", 1895), begegnet der lebendig
nahe Zusammenhang mit der Natur, der Landschaft, den Jahreszeiten.
Aus ihnen quellen jene Formenkräfte, die das bäuerliche Leben immer
wieder von Grund aus aufbauen und erneuern, wie sie Knut Hamsun im
größten modernen Bauernroman, einem wahrhaft altepischen Werke,
dargestellt hat, im "Segen der Erde". Unseren Bauerndichtern ist die
Strenge und Größe dieses Zusammenhanges kaum deutlich geworden.
Ganghofer ist oberflächlich und sentimental, auch Rosegger ist in aller
Volkstümlichkeit und Liebenswürdigkeit zu unproblematisch im
tieferen Sinne--nur die "Schriften des Waldschulmeisters" und "Des
Gottsucher" ragen hervor--, Gustav Frenssens einst so berühmte
Romane ("Jörn Uhl", 1901) sind zwar voll landschaftlicher
Stimmungskunst, aber in der Weltanschauung des liberalen
protestantischen Pfarrers zwiespältig und verschwommen, in der
Charakterisierung der Hauptpersonen romanhaft, in der
Gesamtdarstellung lehr- und predigerhaft, ohne Kraft des Aufbaus,
ohne Einheit der inneren Form. Erdkräftiger wurzeln Ludwig Thomas
Bauernromane "Andreas Vöst" und "Der Wittiber", sie bleiben aber
naturalistisch gebunden. Hermann Stehrs "Heiligenhof" fehlt zur
grübelnden Mystik seiner Bauern die natürliche Fülle und plastische
Kraft; er ist--wie alle Romane dieses Ringenden--mehr reflektiert als
gewachsen.
Über die zersetzten bürgerlichen und adeligen Formenwelten ist die
Entwicklung der deutschen Kultur und Epik noch nicht zu neuen
Lebensformen vorgedrungen. Die Großstädte sind ebenso formlos
geblieben wie die Großstadtromane. Max Kretzers Berliner, Michael
Georg Conrads Münchener Romane sind nichts als Stoff und Tendenz.
Arthur Schnitzlers Versuch zu einem Wiener Roman großen Stiles,
"Der Weg ins Freie", ist in der episch bedeutungslosen Umwelt des
Literaten- und Judentums zergangen. Ein Arbeiterroman gleich der
Bedeutung von Zolas "Germinal" ist uns nicht geworden. Die Welt der
Arbeiter wird sich über Angriff und Verneinung, über die zerbröckelte,
materialistische Weltanschauung des Marxismus erst zur eigenen Form
durchringen müssen.
Aus der modernen Frauenbewegung hat sich ein besonderer
Frauenroman entwickelt. Als Mutter und Gattin ist das Weib der
Urgrund der epischen Welt, aber die neue Zeit reißt zahllose Frauen aus
dem Frieden der Familie und stößt sie in den Kampf des persönlichen
Schicksals. Auch hier sind zersetzte Lebensformen zu überwinden und
zu erneuern. Gabriele Reuters (geb. 1859) Romane, "Aus guter
Familie" (1895), "Ellen von der Weiden", "Das Tränenhaus" zeugen
davon, ohne die Überzeugung stets in Darstellung, die Tendenz in reine
Menschlichkeit wandeln zu können. Auch Helene Böhlaus (geb. 1859)
polemische Frauenromane, wie "Das Recht der Mutter" und "Halbtier",
vermögen das nicht. Wo aber die reine Weiblichkeit ihrer lebensvollen
Natur durchbricht, da wachsen aus der lichten Kindlichkeit ihrer
Jugenderinnerungen die Weimarer "Ratsmädelgeschichten", aus der
leidgeläuterten, warmen Mütterlichkeit ihrer Reife "Der
Rangierbahnhof" (1895), der voll tiefster Güte, voll tragischer
Schönheit ist.
Klara Viebig (geb. 1860) steht den Problemen des eigentlichen
Frauenromans fern; sie ist Naturalistin, die Schülerin Zolas. Elementare
Triebe und Gestalten, Massenleidenschaften und Massenszenen sind ihr
Feld. Die Eiffellandsthaft mit ihren wortkargen, düsteren Menschen,
die--einmal geweckt in ihren Leidenschaften--furchtbar ausbrechen,
gibt ihr die besten ihrer Romane: "Das Weiberdorf", "Vom
Müllerhannes", "Das Kreuz im Venn". Mit scharfer Beobachtung und
sicherer Technik packt sie ihre Gestalten und Probleme von außen,
mehr eine geschickte Schriftstellerin als formende Künstlerin.
Weit über die Welt der Frauenromane, über die Welt selber hinaus
führen die Romane Ricarda Huchs (geb. 1864). Ein durchaus
romantisches Lebensgefühl, die Sehnsucht nach Unerreichbarem
durchschimmert und durchglüht sie. Aber das Unerreichbare ist hier
nicht das Unendliche, sondern das Leben, das in all seiner Schönheit,
Kraft und Vollkommenheit doch ein unaufhaltsames, stetiges Vergehen
ist. Obwohl alle wissen, wie traurig und flüchtig das Dasein ist, wie "es
keinen Sinn hat, die Dinge so fest ans Herz zu schließen, die wir nach
einem bangen Augenblick wieder wegwerfen müssen und nie mehr
sehen", bleibt es doch aller "Bestimmung und Seligkeit, die
himmelhohe Flamme des Lebens mit dem Strahl ihres Wesens zu
nähren". "O Leben, o Schönheit!" singt es durch alle Dichtungen
Ricarda Huchs. Die "schauerliche Wollust, in der träumerisch
spülenden Lebensumflut mitzuströmen", ist die Inbrunst all ihrer
Gestalten. "Nimm uns Tote wieder, o Leben," singen die Toten. Der
Tod selber singt dem Leben ein Liebeslied.
Eine romantische Natur--so steht Ricarda Huch in Reflexion und
Bewußtheit außerhalb der Wirklichkeit. Im Zeitalter der Romantik
hätte sie sich sehnend dem Unendlichen zugewandt; im Zeitalter
Nietzsches, Bergsons, Simmels lodert ihr Wollen und Sehnen in
metaphysischer Glut zum Endlichen, zur Wirklichkeit, zum Leben
zurück. Das Leben wird ihr zum höchsten, zum einzigen Wert. Ihre
Gestalten sind Kinder der Reflexion und der Sehnsucht wie sie, oder ihr
Wunsch und Gegenbild: Kinder des Lebens.
Metaphysisch klingt--nach den noch knospenhaften "Erinnerungen von
Ludolf Ursleu dem Jüngeren"--die Musik von der Schönheit und
Furchtbarkeit des Lebens
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