Der niegeküßte Mund | Page 9

Jakob Wasserman
Fü?e knarren, hob an der Treppe das Kerzchen gegen das Zifferblatt, wobei in seinen grauen, unruhigen Augen etwas Fragendes aufblitzte, das unbehaglich und ?ngstlich den Fortschritt der Zeit wahrnahm. Die akademische Steifheit verlor sich, das leutselige oder sarkastische L?cheln verschwand. Unsichtbare Schatten der Zukunft schienen in dem stillen Haus emporzuwachsen, vom Flur bis in die Bodenkammer, und wehe, wenn sie einmal so weit gelangten, die beiden gesch?ftigen Zeiger der Doktorsuhr stehen bleiben zu hei?en. So wird den Masperos allm?hlich die ganze Welt zu einer Uhr: die Hausmauern, von denen der Kalk abbr?ckelt; der Nachtw?chter, dessen Stimme zitternder und leiser die Stunden ruft; der Wald, von dessen B?umen die Bl?tter fallen; die Erde, die sich mit Schnee bedeckt; die Sonne, die hinter Frühjahrsnebeln blutet; ja, sogar die Kinder, denen der Schuster von Jahr zu Jahr gr??ere Stiefeln machen mu?.
Am n?chsten Tag wu?ten die Sechsundsechzig von komischen Sachen zu wispern, die sie in der Schule geh?rt. Von zehn bis elf war Geschichtsstunde gewesen, ein Fach, das bisher aus einigen Namen und Zahlen bestanden hatte, mühsam und überflüssig zu lernen. Heute war der Lehrer, die H?nde auf dem Rücken, hin- und hergegangen und hatte unaufh?rlich geredet. Ungerechtigkeit sitze auf dem Thron der Erde. Die Geschichte sei nichts anderes als die Wissenschaft von der Ungerechtigkeit. Was ein Edler unternehme, werde hundert Unwürdigen preisgegeben, und ist es Gott, welcher das Glück eines Einsamen bewacht, so seien seine Augen matt, seine Sinne ersch?pft vom Anblick der Zerrüttung und des übels. So sprach der Unbesonnene zu Kindern: Dinge, die weitab vom Kreis seines Amtes lagen, und sein Mund zitterte unter dem buschigen, herabh?ngenden Schnurrbart. Als das Schulzimmer leer war, setzte er sich vor den Globus, und so traf ihn Doktor Maspero, der beim B?cker gewesen war und nun aus freundschaftlicher Besorgtheit auch den Lehrer besuchte. Philipp Unruhs Blicke waren fest auf einen Punkt in der Wüste Saharah gerichtet, dann liefen seine Augen meridianaufw?rts über Hellas und den Hellespont, durchsegelten das Schwarze Meer und blieben stumpfsinnig nach rascher Landwanderung in der N?he Sibiriens liegen. ?Sie werden sich erk?lten bei solchem Klimawechsel,? scherzte der Doktor.
?überall da leben Menschen,? erwiderte der Lehrer, mit einem vertieften Ausdruck emporblickend. ?Lauter fremde Menschen.?
Der Doktor geriet vor dem grabenden Blick Unruhs in Verlegenheit. Er fragte sich umsonst, was er sagen solle.
Die Pausestunden verflossen, und die kurze Schulzeit des Nachmittags verging. Der Lehrer wandelte betrübt zwischen den B?nken umher, und beruhigte so den ?ngstlichen Geist der Kinder wieder. Gegen Abend klopfte es an die Türe von Unruhs eigenem Zimmer und Apollonius Siebengeist trat ein, warf den Hut irgendwohin und den Mantel nach, rieb sich am Ofen die H?nde wie jemand, der eintr?gliche Gesch?fte gemacht hat, und achtete kaum auf die erstaunten Mienen des Lehrers. ?Eine gemütliche Stube haben Sie da,? sagte er, sich fr?hlich umschauend. ?Ich komme zu Ihnen, weil ich niemand hier wei?, mit dem sichs plaudern l??t. Die meisten Leute, mit denen man redet, h?ren gar nicht, sondern besinnen sich nur auf die Antwort. Heute brauch ich aber partout einen Zuh?rer und ein warmes ?fchen. Aber Schulmeister! Onkelchen! Sie sehen aus wie der selige Griesgram.?
?Alle meine Bücher sind mir gestohlen worden,? murmelte der Lehrer klagend.
Siebengeist kratzte seinen Kopf und pfiff leise in die Ofennische. Dann machte er ein pfiffiges Gesicht, das ihm au?erordentlich gut stand, trat dicht vor den Lehrer hin und legte beide H?nde auf dessen Schultern. ?Und wenn ich Ihnen nun verspreche, da? Sie Ihren Schatz wiederhaben sollen?? fragte er l?chelnd.
Philipp Unruh sprang auf. ?Sie wissen? Was verlangen Sie dafür?? rief er mit überraschender Leidenschaftlichkeit.
Siebengeist lachte und err?tete. In seinen Augen war ein so merkwürdiges, verlorenes Gl?nzen, da? es wohl jeder bemerkt h?tte, der sich besser auf Menschen verstand als dieser Philipp Bücherwurm. ?Allerdings verlange ich etwas dafür,? sagte Siebengeist, und sein L?cheln kehrte wieder, das jetzt etwas Durstiges und Gedankenfernes hatte. ?Sie kennen doch den Theaterdirektor, den Herrn, der mit dem Kleister so k?niglich hantiert? Sie erinnern sich doch? Gut. Gehen Sie heute ins Theater. Man gibt die erste Vorstellung. Und wenn das Stück aus ist, suchen Sie auf irgend eine Weise zu dem majest?tischen Herrn zu kommen, knüpfen ein Gespr?ch an, indem Sie sich entzückt stellen über seine Leistung als Graf oder General oder Bettler, was er eben in dem Stück vorstellt. Der Mann wird butterweich werden, oder ich kenne die Kom?dianten nicht. Dann fangen Sie an, von seiner Truppe zu sprechen, laden ihn vielleicht zu einer Flasche Wein ein und kommen so auf Myra zu sprechen. Das ist eine von den Schauspielerinnen. Schreiben Sie sich den Namen auf: Myra. Einen andern hat sie momentan nicht.?
?Myra,? redete Philipp Unruh nach, nicht begreifend, was er solle.
Siebengeist schritt erregt auf und ab, legte die Hand auf die Stirn und fuhr etwas leiser und eint?niger fort. ?Wenn der würdevolle Schuft nicht reden will, so schieben Sie ihm Geld in die Hand. Ich
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