Der niegeküßte Mund | Page 8

Jakob Wasserman
Geheimnisse vermutete. Er haßte die Schweigenden, haßte die
Leute, die anspruchslos ihres Weges gehen und in sich verschließen,
was sie im Innern beschäftigt. Er haßte jene, die sich für irgend etwas
mit wahrem Gefühl einsetzen und hielt sie für Lügner. Jeder Einsame
galt ihm als Verräter an einem öffentlichen Wohl. Seine Zwerggestalt
war der Grund eines wunderlichen, giftigen Ehrgeizes. War er den
andern körperlich unterlegen, so wünschte er doch brennend, sonstwie
zu herrschen. Daher sein penetranter Witz, seine angebliche
Verachtung der Frauen; daher seine seltsame Eifersucht auf alles Große,
was immer in der Welt geschah; daher seine Freude, sogenannte
Wahrheiten zu sagen, seine unermüdliche Geschwätzigkeit, seine Gier,
zu verurteilen, gehört zu werden, belacht zu werden, zu glänzen. Er war
der erste gewesen, der Unternehmungen gegen die Bücherwut des
Lehrers geplant hatte. Seine Motive waren menschenfreundlich; er
sagte es. Aber es waren Worte geblieben bis zum Tag der Feuersbrunst.
Da hatte er das Herausschleppen der Kiste beobachtet und war zum
Bäcker geeilt, der für einen guten Spaß alles Brot im Ofen schwarz

werden ließ. Alsbald war die Kiste unter dem Ladentisch
verschwunden, und der Bäcker drückte sein gründliches Mißfallen an
der Studierwut des Lehrers aus, vermutete Schwarzkunst und teuflische
Zauberei dahinter. Der Doktor empfahl ihm, die Bücher ordentlich zu
bewahren, und verhielt sich so, als ob ein reformatorischer Gedanke
jeden Schritt in dieser Angelegenheit vorbestimmt habe.
Auf dem Heimweg empfand Doktor Maspero ein verwickeltes System
zu der Tat, die er gegen Philipp Unruh unternommen, ein System,
welches zugleich philosophischer und pädagogischer Natur war. Als er
sich der letzten Konklusion nahte, bemerkte er die Gestalt des
Provisors Siebengeist, die am Zaun des Kasinogartens lehnte, als ob sie
steif gefroren wäre, und die Augen des jungen Mannes beobachteten
gespannt den Mond am klaren Himmel. Erschrocken blieb der Doktor
stehen und sagte mit unsicherer Bosheit: »Sie sind mir ein
gespenstischer Herr da.«
Siebengeist senkte den Kopf und blickte den Doktor von der Seite an.
»Dieser Kerl ist mein Feind,« erwiderte er langsam, die Faust gegen
den Mond ballend. »Ich kann nicht schlafen, so lang er am Himmel
steht.«
»Also ein Romantiker,« meinte der Doktor, spöttisch in den Ton des
Arztes verfallend, »ein Romantiker mit kalten Füßen also.«
Siebengeist begleitete schweigend den Doktor die Straße hinab. Der
Herr Adjutant kam ihnen entgegen, grüßte schreiend und lachend, als
ob er eben von einer Amerikareise zurückgekehrt wäre und verschwand
lautlos in der Nacht. Selten sind die Schlauen auch im Schweigen
schlau. Der Doktor erzählte Siebengeist mit geheimnisvollem Wesen
die Geschichte von den geraubten Büchern, und das philosophische
System enthüllte sich in Beweiskraft. Siebengeist hatte nichts darauf zu
antworten. Er nahm Schnee in die Hand und drückte ihn gegen seine
Stirne. »Der Mond ist mein Feind,« murmelte er. »Mich verdrießt sein
Grinsen, seine Klarheit, sein erborgtes Licht, seine anspruchsvolle
Nutzlosigkeit. Er steht da droben und hat sein Amüsement von der
Welt. Und ich, ich muß mir den Kopf im Schnee kühlen, fiebernd vor
Überdruß.«

Sie standen vor dem Turmbogen, und der Doktor blickte verdutzt sein
Haustor an, wußte nichts zu entgegnen als: »Sie sind verliebt, junger
Freund.« Er hatte bei den Redereien des Provisors ein Gefühl wie
jemand, den man aus dem ersten Schlaf weckt, um ihm die
Anfangsgründe der Eskimosprache beizubringen. Doch tat er
verständnisvoll aus Furcht vor einer möglichen Überlegenheit des
andern.
»Richtig: eine meisterhafte Vermutung!« rief Siebengeist, mit dem
Stock an das morsche Tor schlagend, daß es drinnen dumpf
widerhallte.
»O, ich bin ein geriebener Hund, was die Weiber betrifft,« sagte der
Doktor. »Ich kenne alle Schliche darin. Wie sieht sie aus, was ist sie,
wie ist sie?«
»Wie sie aussieht? Je nun, das ist schwer. Eine gut funktionierende
Nase, zwei erfahrene Augen, ein redseliger, lügnerischer Mund. Wie
sie ist? Ebenso feig wie dumm, ebenso habgierig wie eitel, ebenso frech
wie leer, ebenso gestorben wie die andern Leute hier herum. Aber Sie
denken, ich spiele deshalb den Verschmäher? Ei, Doktor, da irren Sie
sich. Der Rock ist alles, es lebe der Rock. Genug davon. Zuviel Wucht
für die taube Nuß.«
Unter dem Torbogen des Turms schallte ein leichter Schritt. Es ging da
ein junges schwarzgekleidetes Mädchen, dessen Kopf mit einem Schal
verhüllt war. Es sah nicht aus, als ob sie Eile hätte, denn sie ging mehr
für sich hin, verloren und abgekehrt, den Kopf leicht vorgeneigt, und in
ihrem Schritt war sowohl Müdigkeit als auch Verträumtheit enthalten.
Siebengeist folgte ihr mit den Blicken, als ob sich sein Schatten in
Bewegung gesetzt hätte, denn es war schon etwas Ungewöhnliches, daß
zur Schlafenszeit in offener Gasse jemand ging, der nicht Eile zeigte,
schlafen zu gehen.
Des Doktors Schlüssel kreischte im verrosteten Schloß. Herr Maspero,
Siebengeist beobachtend, gab seine liebenswürdige Nachsicht durch ein
Lächeln kund, einem Veteranen gleich, der beim Anblick der
Spielflinte eines Knaben an die großen Schlachtenkanonen denkt. Dann

verabschiedete er sich in der akademischen Steifheit, die ihm eigen
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