Kußgeschichte
gesprochen. Rottmann tat unwissend, Fink mußte ihm den Vorfall in
Erinnerung rufen; es klang sogar für Dietrichs Unerfahrenheit wie ein
abgekarteter Dialog. Das halte er für unmöglich, sagte Rottmann
abweisend, so etwas tue von der Leyen nicht, noch dazu in einer so
verfänglichen Situation; Unsinn; solches Geschwätz dürfe man nicht
aufkommen lassen; von der Leyen sei viel zu herzenskalt übrigens, um
sich in der geschilderten Weise hinreißen zu lassen; er, Rottmann,
fürchte, Oberlin habe sich bloß wichtig machen wollen, aber
dergleichen Prahlerei stehe ihm übel an. Dietrich schaute ihm entrüstet
ins Gesicht. Das war unerwartet. Worauf zielte er hin? Was er im
Denken kaum noch zu berühren sich unterfangen, das Gehütete, dieser
Irgendwer riß es aus ihm heraus und wies mit Fingern hin. Im Innern
war eine vorher nicht gespürte Last, ohne die es schöner und bunter zu
leben war. Die ehrenkränkende Bezichtigung gab ihm das Wort ein,
daß es geschehen sei, habe niemand zu kümmern, es wäre ihm nie in
den Sinn gekommen, darüber zu reden, und er begreife nicht, mit
welchem Recht man ihn verdächtige. Nun, nun, besänftigte Rottmann,
es habe ja nichts weiter auf sich, er glaube ihm natürlich, mehr habe er
nicht gewollt, als daß Oberlin den Vorgang einräume, das Geständnis
vor einem Zeugen genüge ihm vollständig. Er nickte den beiden zu und
entfernte sich.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte Oberlin erstaunt. Kurt Fink zuckte
die Achseln und sah verlegen aus.
Georg Mathys hielt es für geraten, Oberlin zu warnen. »Du solltest dich
nicht mit Kurt Fink einlassen«, sagte er noch am selben Abend zu ihm.
Dem sei nicht zu trauen, dem Unsichern, sich selbst Gefährlichen.
Draußen habe er schlechte Streiche gemacht, sei von der Prima
relegiert worden; ihn aufzunehmen habe sich von der Leyen lange
gesträubt und nur auf inständiges Bitten der Eltern nachgegeben. Als er
ihn einmal in Obhut gehabt, sei ihm auch Pflicht daraus erwachsen, er
mache sichs ja mit keinem leicht. Eine Zeitlang habe er sich besonders
angelegentlich mit ihm beschäftigt, es hätte geschienen, als sei Fink ein
anderer geworden. Da habe eines Tages der Bürgermeister im Dorf
drüben sich beschwert, daß er in unverschämter Manier den Mägden
und Bauerntöchtern nachstelle, und daraufhin habe sich Lucian von
ihm abgewendet. Seitdem habe er sich aufsässig gezeigt, ränkevoll, und
auf eine Lüge mehr oder weniger käme es ihm nicht an. Übrigens sei es
das letzte Semester für ihn, er wolle sich in einer Presse für die Matura
vorbereiten.
Die jungen Menschen wagen es nicht, sich gegeneinander klar zu
entscheiden. Oberlin fühlte sich keineswegs wohl mit Kurt Fink, aber
er mied ihn nicht. Es war da etwas Anziehendes wie ein Wasser, dessen
Tiefe man kennen mußte; das fremdere Wort, der verwegenere Sinn,
der verratende Blick. Er suchte ihn nicht, aber er ließ sich finden. Er
öffnete sich nicht, aber er lieh ihm Gehör. Häßliches wurde
verführerisch, und er hatte Furcht. Die Stunde barst von Geheimnissen.
Hinter dem Wirklichen stand ein schattenhaft Verhülltes. Es war ein
Wühlen in der Erde und ein Brausen in den Wolken. Schlaf quälte. Der
Duft der Akazien war wie beständiger Orgelton. Wenn der Kuckuck
schrie, zitterte man. Drei, vier Tage kamen, so voll Ahnung,
Hindrängen, Ertasten, Erwünschen, daß Buch und Lehre verstummten.
Auch mit den andern schien es so zu stehen; ihre feuchteren Blicke,
ihre unruhigeren Hände ließen es wissen; in der Nacht richtete sich
einer auf und rief ein Wort in die Dunkelheit; am Morgen waren
manche Augen hohl und Lippen blaß.
Oberlin suchte Lucians Nähe; wenn er Fink verlassen hatte, spürte er es
wie Durst nach Lucian. Doch Lucian schien bedrängt. Es war bisweilen,
als horche er, warte er; nicht auf Gutes, die Stirn hatte die finstere Falte.
Er schützte gehäufte Arbeit vor, um einem Zusammensein
auszuweichen, aber im Druck seiner Hand war die herzlichste
Versicherung. Es war seine Art nicht, sich zurückzunehmen, doch
wenn ihm Oberlin wortlos das Herz entgegentrug, richtete sein Auge
eine Schranke auf.
Denn er verzieh sich jene Sekunde der Selbstvergessenheit nicht. Er
maßte sich das Recht nicht an, die Schale um die Menschenbrust zu
sprengen; was konnte er tun, um Schutz zu bieten, die unbegrenzte
Verheißung zu erfüllen? Er hatte sein Gesetz übertreten, preisgegeben,
was zu bewahren war, sich an ein Gefühl verraten, das Mysterium
entsiegelt; das forderte Umkehr und Entsagung. Oberlin wurde ihm wie
ein geliebtes Bild, das man besitzt, um es zu verschließen.
Aber in der Gemeinschaft, wo er Lehrer und Führer war, gab es doch
immer ein Zeichen, das nur für Oberlin bestimmt war, Worte, die nur
ihm allein galten. Dietrich mußte freilich fein und wachsam sein, damit
sie ihm nicht entgingen; das brachte Spannung in sein ganzes Wesen;
Spannung wuchs ins Unerträgliche, so daß er dann das leichte Opfer
des Verführers wurde, der das Netz um ihn wob. So geschah es auch
am dritten Tag, nachdem der Präfekt Rottmann Hochlinden verlassen
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