Der Wendekreis - Zweite Folge
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Title: Der Wendekreis - Zweite Folge Oberlins drei Stufen, Sturreganz
Author: Jakob Wassermann
Release Date: June 11, 2006 [EBook #18552]
Language: German
Character set encoding: ISO-8859-1
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WENDEKREIS - ZWEITE FOLGE ***
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Jakob Wassermann
Der Wendekreis
Zweite Folge
Oberlins drei Stufen
und
Sturreganz
1922 S. Fischer / Verlag / Berlin
Erste bis fünfzehnte Auflage
Alle Rechte vorbehalten Copyright 1922 by S. Fischer, Verlag, Berlin
Inhalt
Oberlins drei Stufen ...... 7 Die erste Stufe ......... 9 Die zweite
Stufe ........ 51 Die dritte Stufe ........ 121 Sturreganz ................ 225
Oberlins drei Stufen
Marta der Gefährtin gewidmet
Die erste Stufe
Der Knabe Dietrich Oberlin wuchs im Hause seiner Eltern in der
strengen Zucht auf, die ein Ergebnis ehrwürdiger Überlieferung war.
Die Familie gehörte zu den altpatrizischen der Stadt Basel; ererbter
Reichtum und ererbte Ämter zeichneten sie aus; Dietrichs Großvater
war Bürgermeister gewesen, sein Vater war Mitglied der Regierung
und saß im Rat der Nation.
Er war das einzige Kind, zwei Geschwister waren in frühem Alter
gestorben, ihm war die Pflicht zur Haltung und Repräsentation schon
mit dem Erwachen des Bewußtseins eingeprägt. Der Tag hatte seine
festbestimmte Teilung; er begann Sommer und Winter um sechs Uhr
und endete um neun. Da war kein Übergreifen möglich, keine
Viertelstunde Licht zu abendlicher Lektüre, kein Ausflug über die
gesetzte Frist. Bei Tisch hatte man auf die Sekunde zu erscheinen,
waren Gäste da, so unterlag die zu übende Zurückhaltung der
wachsamsten Aufsicht. Verkehr mit Menschen war an Regeln
gebunden; das und das hat man zu sagen, das und das hat man zu
verschweigen. Jedem war ein ihm zukommendes Maß von Ehre zu
erweisen, bis auf Gleichaltrige herab; der Name, den er trug, die
Familie, aus der er stammte, der Grad der öffentlichen Schätzung, die
er infolgedessen genoß, zeigten die Richtung und ordneten die
Beziehung. Man lernte, wie man jemand durch einen Gruß von sich
entfernen oder Entgegenkommen ausdrücken konnte; Lächeln,
Freundlichkeit, Frage, sie beruhten auf Brauch und Verabredung.
In den Zimmern standen die Dinge unverrückbar; es war etwas Heiliges
um das Einzelne, ob es kostbar war oder nicht. Die chinesischen Vasen,
japanischen Schnitzereien; die florentinische Uhr in der Diele mit
ihrem königlich sonoren Schlag; die bemalten Glasfenster im
Treppenhaus, die eichenen Schränke im Flur, die Brokatdecken im
Salon, die marmornen Figuren in der Bibliothek, die Ahnenbilder im
Speisesaal: Männer mit eckigen Schädeln, die Frauen mit hochmütig
geschürzten Lippen und bäuerinnenhaft stumpfen Augen; das
Silbergeschirr auf der Tafel, alles wie gewachsen, wie von Ewigkeit her.
Die Hand der Mutter war nur zu denken mit dem alten silbernen Ring,
den ein ziseliert gefaßter Smaragd krönte, und wenn der Blick sich zu
ihrem Gesicht erhob, streifte er zuerst das Sammetband mit dem
goldenen Medaillon an ihrem Hals.
War es doch, als trüge sie seit tausend Jahren den Ring mit dem
Smaragd und das goldene Medaillon am schwarzen Band. Und sie war
eine junge Frau.
Man ging leise, man sprach ohne merklichen Aufwand von Stimme.
Man behielt die Türklinke in der Hand, bis die Türe geschlossen war.
Mitteilung geschah in gemäßigter Form. Artigkeit war ein Begriff von
wesentlicher Bedeutung. Alles Tun hatte zum Mittelpunkt das Interesse
des Hauses. Plötzliches war nicht willkommen; in erster Reihe stand
das Gefällige, was nicht verletzt und nicht beunruhigt. Wichtig,
zwischen Herrschenden und Dienenden genau zu unterscheiden, sich
niemals etwas zu vergeben, niemals die weise gezogenen Grenzen zu
überschreiten.
Es kann nicht behauptet werden, daß der Knabe unter der
Unantastbarkeit der äußeren Ordnungen und des täglichen Ablaufes litt.
Die Gebote waren wirksam gewesen, als sein Blut zu pulsen begonnen
hatte; geschlechterlang hatten sie regiert, die eckigen Schädel geformt,
den ernsthaften Bauernblick, die hochmütig geschürzten Lippen; es
konnte dagegen kein Anderswollen aufkommen. Kein Gefühl der Last
war da. Innerhalb des zugestandenen Bezirks durfte Dietrich die seiner
Jugend gebührenden, dem Rang der Familie entsprechenden Freiheiten
genießen. Daß er sie mißbrauche, wurde nicht befürchtet. Mißbrauch
wäre bereits Entartung gewesen, und auf die Art mußte man sich
verlassen können. Die Familie war eine unzerstörbare Einheit; man
hätte sagen können, sie unterhielten sich in ihrer besonderen Sprache,
wenn sie unter sich waren. Die Fesseln lockerten sich, die die Welt
auferlegte; ein beziehender Blick, Scherzwort, lächelndes Zunicken
besiegelten Unverbrüchlichkeit oder offenbarten Empfindungen, die
man sonst verschloß.
Dietrich war zum Studium der Rechtswissenschaft bestimmt, wie der
älteste Sohn seit jeher. Später sollte er in den Staatsdienst treten. Dem
Vorhaben der Eltern
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