Der Spiegel Des Cyprianus | Page 8

Theodor W. Storm
wo ein Knecht mit der Abzapfung
eines Fasses Ingelheimer beschäftigt war. "Hast du nichts gehört,
Casper?" rief er und setzte das Lämpchen, das er in der Hand gehalten,
auf das Faß.
Der Knecht schüttelte den Kopf. "Mir war", sagte der Alte, "als hörte
ich den Junker Kuno meinen Namen rufen."
"Ihr irrt Euch, Meister", erwiderte der Knecht; "hier unten hört sich
nichts!"
Eine Weile stand es an; da rief der Alte wieder: "Um Gott, Casper, da
hat es nochmals mich gerufen; das war ein Notschrei aus meines
Junkers Kehle!"
Der Knecht fuhr in seiner Arbeit fort. "Ich höre nur den roten Wein
vom Fasse rinnen", sagte er.
Der Alte aber ließ sich nicht beruhigen; er stieg in das Schloß hinauf; er
ging von Tür zu Tür, erst in dem Erdgeschoß und dann droben in dem
oberen Stockwerk. Als er die Tür der entlegenen Rüstkammer öffnete,
da leuchtete ihm der Spiegel des Cyprianus entgegen, auf den die
Abendsonne schien. "Wessen ruchlose Hand hat denn das
herabgerissen?" murrte der Alte; als er aber das Bahrtuch vom Boden
hob, sah er darunter den Leichnam des Knaben und sah die dunkeln
Locken über den geschlossenen Augenlidern liegen.
Der alte Mann stürzte in die Kniee und warf sich jammernd über ihn.
Er löste die Kleider und suchte an dem Körper seines Lieblings nach
der Spur des Todes. Aber er fand nichts als nur über dem Herzen einen
dunkelroten Flecken. Lange blieb er noch finster und grübelnd auf den

Knien liegen. Dann hüllte er den Knaben in das Bahrtuch, nahm ihn auf
seine Arme und trug ihn in das Erdgeschoß hinab nach dem Zimmer
der Gräfin. Als er eintrat, sah er die stolze Frau todbleich und zitternd
vor dem Obersten stehen, der, wie es schien, halb mit Gewalt ihre Hand
erfaßt hielt.
Da legte der Alte den Leichnam zwischen die beiden auf den Boden,
und fest die Augen auf sie heftend, sprach er: "Der Erbherr Graf Kuno
ist tot; Euer Söhnlein, Frau Gräfin, ist jetzt der Erbe dieser Herrschaft."
Es mochte ein Monat nach dem Begräbnis des jungen Erbherrn sein, da
lehnte die Gräfin eines Nachmittags an dem Geländer eines kleinen
Söllers, der über der Tiefe schwebend von ihrem Zimmer den Austritt
in die freie Luft gestattete. Der kleine Wolf stand neben ihr und
betrachtete eine Schar von Vögeln, welche in den Wipfeln der von
unten heraufragenden Föhren und Eichen mit lautem Geschrei ihr
Wesen trieben.
"Sieh nur!" sagte die Gräfin. "Sie beschreien den Kauz; dort sitzt er
neben dem Astloch in der Eiche." Und sie wies mit dem Finger vor sich
hin.
Des Knaben Augen folgten mit Begierde. "Ich seh ihn schon, Mutter",
sagte er; "das ist der Totenvogel; er schrie vor meinem Fenster, als der
arme Kuno starb."
"Hol deine Armbrust und schieß ihn!" sagte die Mutter.
Der Knabe sprang aus dem Zimmer, die Treppen hinab und in den Stall.
Dort lag die Armbrust neben seinem kleinen Roß. Aber die Sehne war
zerrissen; er hatte sie lange nicht gebraucht; denn Kuno war nicht mehr
da, der ihm die Bolzen schnitzte und den Holzvogel auf die Stange
steckte.--Da lief er in das Schloß zurück. Er entsann sich, daß der
Bruder seine Armbrust oben in der Rüstkammer aufzuhängen pflegte.
Als er dort in dem entlegenen Teile des Schlosses angekommen war
und sich mit Mühe durch die schwere Eichentür gedrängt hatte,
leuchtete ihm der Spiegel des Cyprianus mit seinem bläulichen Schein
entgegen. Die Stahlfacetten des Rahmens blitzten im letzten Strahl der

Abendsonne. Der Knabe hatte das noch nie gesehen; denn wenn er
auch einmal mit dem Bruder hierher gekommen, so war doch das
Kunstwerk stets mit dem schweren Bahrtuch verhangen gewesen. Jetzt
stand er davor und besah staunend sein eigenes Bild in diesem Glanze;
er schien die Armbrust ganz vergessen zu haben.--Es mußte indessen
außer ihm selbst noch etwas in dem Spiegel sein, das seinen ganzen
Sinn gefangen nahm; denn er kniete nieder und legte die Stirn an das
Glas, um so nahe als möglich hineinzuschauen.
Plötzlich aber griff er mit beiden Händen nach dem Herzen. Dann
sprang er mit einem Wehschrei in die Höhe. "Hilfe!" schrie er, "Hilfe!"
und noch einmal mit durchdringendem Zeter: "Hilfe!" Da hörte es die
Mutter unten auf dem Söller; und in Todesangst irrte sie von Gang zu
Gang, von Tür zu Tür. "Wolf! Wo bist du, Wolf?" rief sie; "so gib doch
Antwort!" Und endlich kam sie in die rechte Tür. Da lag ihr Kind, sich
im Todeskampfe auf dem Boden windend.
Sie warf sich über ihn. "Wolf! Wolf! Was ist geschehen?"
Der Knabe regte die verblaßten Lippen. "Es hat mir einen Schlag aufs
Herz getan", stammelte er.
"Wer, wer tat es?" flüsterte die Mutter. "Wolf, sprich nur ein einziges
Wort noch; wer hat das getan?"
Der Knabe wies mit erhobenem Finger in den Spiegel.--Und das
sterbende Kind in ihren Armen haltend, blickte
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