sich niemals
unseren Augen, er erscheint nur unserm Geist. Er ist eine Art festen
und gemeinsamen Mittelpunktes, um den sich die verschiedenen
Differenzierungen als Abweichungen und Schwankungen gruppieren.«
Anderseits schien das Studium des Typus notwendiger als das des
Einzelfalls, da ja die synthetische Impression immer dem analytischen
Studium voraufgeht.
Heutzutage glaubt man diese synthetische Impression erreicht zu haben,
und der Verbrecher wird physisch und psychisch als ein Typus
beschrieben, der zwischen dem Wilden, dem Epileptiker und dem
moralisch Irrsinnigen rangiert.
Gegen diesen Glauben lehnt sich das analytische Studium auf.
Nachdem die typischen Verbrechercharaktere abstrakt beschrieben
sind, läßt sich feststellen, wer als Verbrecher angesehen werden kann,
und man kann zum Studium des Individuums fortschreiten.
Das hat zuerst =Lombroso= erkannt, der in seinem »Archiv«
zahlreiche Einzelfälle beschreibt und in seinem »Palimsesti del
carcere« verschiedene Selbstbiographien von Verbrechern
veröffentlicht hat. Aber vielleicht ist das Studium immer ein hastiges
gewesen, da es mehr dem Zweck dienen mußte, dem allgemeingiltigen
Gesetz die Grundlage zu liefern, als die Untersuchung der Einzelfälle
zu vertiefen und zu beleben. Und daraus kann man keinen Vorwurf
herleiten, die Wissenschaft war dazu noch nicht reif und hatte anderes
und dringlicheres zu thun.
Diese Veröffentlichung soll einen Beitrag bilden zu dem Studium der
Verbrecherpersönlichkeit, einerseits durch den Bericht der Erlebnisse,
die der Verbrecher mit eigener Hand niedergeschrieben hat,
andererseits durch das Gutachten des berühmten Gelehrten Silvio
Venturi, Professors an der Universität Neapel und Direktors des
Irrenhauses zu Girifalco, der Gelegenheit hatte, den Verbrecher zu
beobachten und zu studieren.
II.
Der Held dieses Buches lebt und befindet sich zur Zeit in einem der
zahlreichen Gefängnisse des Königreichs Italiens. Mit Rücksicht auf
seine Familie und seine Kinder habe ich seinen Namen nicht
vollständig gegeben und die Namen vieler Persönlichkeiten
verschwiegen. Wenn er von dieser Veröffentlichung wüßte, würde er
wahrscheinlich gegen diese Unterdrückung protestieren, die doch
nichts weiter ist als ein Akt der Rücksicht gegen sein Unglück. Es ist
unzweifelhaft, daß er von der Publikation seines Buches seine
Rehabilitation erwarten würde, denn er nennt sich stets einen
Unglücklichen, nie einen Schuldigen, und widmet seine
Denkwürdigkeiten, die so voll Schmutzigkeiten sind, dem Liebling unter
seinen Söhnen.
Indessen sein Name existiert heute nicht mehr, statt dessen trägt er eine
Nummer, denn das Gesetz hat ihn jeder Persönlichkeit entkleidet, und
sein Name gehört nur seinen armen Kindern. Die elementarste
Menschlichkeit mußte mich veranlassen, den Namen eines Mannes zu
verschweigen, den das Gesetz der bürgerlichen Rechte beraubt und die
Wissenschaft der moralischen Verantwortlichkeit bar erklärt hat.
Besser als sein Name wird seine Erzählung und die im vorigen Jahre
aufgenommene Photographie wirken,[1] und das Zeugnis des Prof.
Venturi dürfte jeden Zweifel über die Authentizität zerstreuen.
[1] Dem Original ist das Bild des M... beigefügt.
Ich habe M... nicht gesehen und kann mir ein Urteil über ihn nur aus
dem Kontrast bilden, welcher zwischen seiner Selbstbiographie und
seinem wirklichen Lebenslauf besteht.
Venturi, der berühmte Verfasser der Degenerazioni psicosessuali, der
bei dem letzten Prozeß gegen M... als Sachverständiger hinzugezogen
wurde, hat sich lebhaft zum Studium des Helden hingezogen gefühlt;
ihm übergab M... das Manuskript seiner Denkwürdigkeiten, und auf
diesem Wege ist es an mich gelangt. Ich würde es nicht veröffentlicht
haben, wenn mir der wissenschaftliche Beistand des Psychiaters gefehlt
hätte, und wenn dieser mich nicht in den Stand gesetzt hätte, die
objektive Wahrheit gegenüber der subjektiven Darstellung des M...
festzustellen.
Nach den Ermittelungen Venturi's gebe ich im Folgenden eine
Biographie des M..., welche in vielen Fällen den Schlüssel zum
Verständnis der Selbstbiographie abgeben, deren Lücken ausfüllen und
die Fälschungen aufdecken wird, die entweder von einer ihm oft selbst
unbewußten irrtümlichen Auslegung der Dinge oder von der
Verbrechereitelkeit diktiert sind.
III.
Antonino M... wurde in Parghelia, Provinz Catanzaro, im Jahre 1850
geboren. Er ist heute 42 Jahre alt. Er war einer jener kleinen
Grundbesitzer, die für die südlichen Provinzen charakteristisch sind.
Seine Eltern sind tot; sein Vater starb im Alter von 45 Jahren an
Bauchfelltuberkulose (tabes mesenterica), die Mutter mit 37 Jahren in
der Entbindung. Der Vatersbruder starb als Verrückter, er hatte eine
bescheidene Bildung, aber glaubte, daß er an Gelehrsamkeit und
Weisheit unerreicht dastehe, er litt an gelegentlichem Verfolgungswahn,
so daß er mehrere Male in große Erregung geriet, weil er meinte, daß
unter seinem Bette Soldaten verborgen seien, die ihm nach dem Leben
trachteten, und daß er sich von den Leuten, die nur in seiner Phantasie
lebten, dadurch befreien wollte, daß er sein Haus ansteckte.
Eine Vaterschwester, die noch lebt, wird in der ganzen Stadt die
»Verrückte« genannt, sie führt ein einsiedlerisches Leben, flucht
unaufhörlich und läuft aus dem Hause.
M... hat einen Bruder und eine Schwester, die gesund sind.
Im Alter von 10 Jahren wurde M... mehrere Monate krank, man hielt
ihn für schwindsüchtig, aber er genas vollständig. Er genoß keinen
anderen Unterricht, als in der Elementarschule seiner Vaterstadt, einer
Schule, die vor dreißig Jahren als ein legalisierter Analphabetismus
bezeichnet werden kann. Das ist
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