Der Mann des Schicksals | Page 3

George Bernard Shaw
Angst vor der Schildwache, einem jungen Soldaten aus vornehmer Familie, der keinen natürlichen Schnurrbart besitzt und sich deshalb einen sehr martialischen mit Stiefelwichse von seinem Feldwebel hat ins Gesicht hineinmalen lassen. Da seine schwere Uniform, wie alle Uniformen seiner Zeit, ohne die leiseste Rücksichtnahme auf seine Gesundheit oder seine Bequemlichkeit, lediglich für die Parade bestimmt ist, schwitzt er fürchterlich in der Sonne; sein gemalter Schnurrbart ist in kleinen Streifen sein Kinn und seinen Hals herabgelaufen, mit Ausnahme von jenen Stellen, wo er zu einer Kruste wie von japanischem Lack getrocknet ist, und wo seine sch?n geschweifte Linie durch groteske kleine Buchten und Landzungen unterbrochen wird. Alles dies macht ihn unsagbar l?cherlich in den Augen der Geschichte hundert Jahre sp?ter, aber fürchterlich und schrecklich in den Augen der zeitgen?ssischen norditalienischen Kinder, denen es ganz natürlich erscheinen würde, wenn die Wache die Eint?nigkeit des Postenstehens dadurch zu beleben versuchte, da? sie ein verlaufenes Kind auf ihr Bajonett spie?te, um es ungekocht zu verspeisen. Trotzdem hat ein M?dchen von schlechtem Charakter, an dem schon der Sinn für ein gewisses Vorrecht, das sie bei den Soldaten hat, erwacht ist, sich für einen Augenblick verstohlen an das sicherste Fenster geschlichen, bis ein Blick und ein Klirren der Wache es davonjagt. Was die Kleine zumeist sieht, das hat sie schon früher gesehen: den Weingarten mit der alten Kelter dahinter und einen Karren bei den Weinst?cken; die Türe dicht zu ihrer Rechten, die nach dem Eingange des Gasthauses führt, wo des Wirtes bester Schenktisch weiter hinten an derselben Seite nun in voller T?tigkeit für das Mittagessen steht; auf der anderen Seite den Kamin mit einem Sofa in der N?he und eine andere Tür, die zwischen Kamin und Weingarten in die inneren R?ume führt; in der Mitte einen Tisch mit seiner Mahlzeit von Mail?nder Risotto, K?se, Trauben, Brot, Oliven und einer gro?en, mit Weidenzweigen umflochtenen Flasche Rotwein. Der Wirt, Giuseppe Grandi, ist auch nichts Neues für sie; er ist ein dunkelfarbiger, lebhafter, geh?rig heiterer, schwarzlockiger, kugelk?pfiger, grinsender kleiner Mann von vierzig Jahren. Schon von Natur ein guter Wirt, ist er heute abend in extra guter Laune über sein Glück, den franz?sischen Kommandeur als Gast unter seinem Dache zu haben, dessen Gegenwart ihn vor den übergriffen der Soldaten schützt. Er tr?gt sogar ein Paar goldener Ohrringe zur Schau, die er sonst mit seinem kleinen Besitz an Silbergeschirr sorgf?ltig unter der Kelter versteckt haben würde.)
(Napoleon jedoch, der ihm gegenüber an der hinteren Seite des Tisches sitzt, und seinen Hut, seinen Degen und seine Reitpeitsche, die auf dem Sofa liegen, sieht das M?dchen zum erstenmal. Er arbeitet hart, teils an seiner Mahlzeit, die er in zehn Minuten zu verschlingen wei?, indem er alle Gerichte gleichzeitig in Angriff nimmt (diese Gewohnheit ist der erste Schritt zu seinem sp?teren Untergange), und teils an einer Landkarte, die er aus dem Ged?chtnis verbessert, wobei er gelegentlich die Stellungen seiner Streitkr?fte kennzeichnet, indem er eine Traubenschale aus dem Munde nimmt und sie mit seinem Daumen wie eine Oblate auf die Landkarte drückt. Er hat Schreibmaterial vor sich liegen, unordentlich mit den Gerichten und Flaschen vermengt, und sein langes Haar f?llt bald in die Risottobrühe herab, bald in die Tinte.)

(Giuseppe.) Wollen Exzellenz....
(Napoleon blickt gespannt auf seine Karte, stopft sich aber mit der linken Hand mechanisch den Mund dabei voll): Schwatz' nicht, ich habe zu tun.
(Giuseppe in ungetrübt guter Laune:) Wie Sie befehlen, Exzellenz.
(Napoleon.) Bring mir rote Tinte!
(Giuseppe.) Leider habe ich keine, Exzellenz.
(Napoleon mit korsischem Humor:) T?te etwas und bring' mir das Blut.
(Giuseppe grinsend:) Es ist nichts im Hause, als das Pferd Eurer Exzellenz, die Schildwache, die Dame im ersten Stock und meine Frau.
(Napoleon.) T?te deine Frau.
(Giuseppe.) Mit gr??tem Vergnügen, Exzellenz. Aber unglücklicherweise ist sie st?rker als ich--sie würde mich t?ten.
(Napoleon.) Das w?re ebenso gut.
(Giuseppe.) Exzellenz erweisen mir zu viel Ehre. (Seine Hand nach der Flasche ausstreckend:) Vielleicht kann etwas Wein den Zweck erfüllen.
(Napoleon beschützt die Flasche schnell und wird ganz ernst:) Wein? Nein--das w?re Verschwendung. Ihr seid alle gleich--Verschwendung! Verschwendung! Verschwendung! (Er markiert die Landkarte mit Sauce, wobei er die Gabel als Feder benützt.) R?um' ab! (Er leert sein Weinglas, st??t seinen Stuhl zurück und benützt seine Serviette, streckt dann die Beine aus und lehnt sich zurück, aber noch immer die Stirn runzelnd und in Gedanken.)
(Giuseppe r?umt den Tisch ab und stellt die Sachen auf ein Tablett, das auf dem Büfett steht:) Ein jeder denkt, wie es für sein Gesch?ft taugt, Exzellenz. Wir Gastwirte verfügen über eine Menge billigen Wein; wir finden nichts dabei, ihn zu vergie?en,--Ihr gro?en Generale verfügt über eine Menge billiges Blut: Ihr findet nichts dabei, es zu vergie?en. Hab' ich recht, Exzellenz?
(Napoleon.) Blut kostet nichts, Wein kostet Geld. (Er erhebt sich und geht an den Kamin.)
(Giuseppe.) Man sagt, da? Sie mit allem sparen, au?er mit Menschenleben, Exzellenz.
(Napoleon.) Ein Menschenleben, mein Freund, ist das einzige Ding, das sparsam mit sich selbst umgeht. (Er wirft
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