Der Fall Deruga | Page 5

Ricarda Huch
uns
bitte, wann und wie Ihnen zuerst etwas von dem gegen Sie erhobenen
Verdacht zu Ohren kam!«
»Durch einen sehr anständigen Menschen,« begann Deruga, »sehr
anständig und achtungswert, obgleich er nur ein roher italienischer
Weinhändler ist. Der Mann heißt Tommaso Verzielli und kam vor
fünfzehn Jahren als ein armer Teufel zu mir, nachdem er eine
fünfjährige Gefängnisstrafe verbüßt hatte. Er hatte nämlich einen
Polizisten niedergestochen, der eine arme alte Frau verhaften wollte,
weil sie in einem Bäckerladen ein Brot genommen hatte. Er war sehr
verzagt und wollte nach Italien zurück, denn unter Deutschen, sagte er,
würde er doch nicht aus dem Gefängnis herauskommen, weil er
fortwährend Dinge mit ansehen müßte, wobei ihm das Blut zu Kopfe
stiege. Ich sagte, das würde in Italien nicht anders sein, und redete ihm
zu, er sollte die Menschen sich untereinander zerreißen lassen, sie
wären einander wert, und es wäre um keinen schade. Er solle heiraten
und nur noch für Frau und Kinder arbeiten und sorgen, und außerdem
gab ich ihm den Rat, einen Handel mit italienischen Weinen und
anderen Lebensmitteln anzufangen, und schoß ihm ein kleines Kapital
dazu vor. Das hat er mir längst zurückgestellt, denn durch Fleiß und
Intelligenz brachte er sich schnell in die Höhe, aber er widmet mir
immer noch eine Dankbarkeit, als ob ich ihm täglich neu das Leben
schenkte.
Dieser Verzielli also kam Mitte November am späten Abend in voller
Aufregung zu mir gelaufen und erzählte mir, der italienische Konsul,
Cavaliere Faramengo, ein guter alter Herr, aber etwas schwachsinnig,
sei bei ihm gewesen -- Verzielli hat nämlich jetzt ein sehr feines

Restaurant -- und habe sich unter der Hand nach mir erkundigt und als
tiefstes Geheimnis verraten, daß ich als Mörder meiner geschiedenen
Frau verhaftet werden sollte. Der gute Mensch war außer sich und bot
mir sein ganzes Vermögen an, wenn ich nach Amerika fliehen wollte.
'Deruga und fliehen? Da kennst du Deruga schlecht, guter Freund,'
sagte ich und lief sofort, trotz Verziellis Flehen, zum italienischen
Konsul. Der arme alte Herr hat fast einen Schlaganfall bekommen, so
heftig stellte ich ihn zur Rede, und da ich von ihm keine genügende
Auskunft bekam, reiste ich hierher, um den Ursprung des infamen
Gerüchtes kennenzulernen.«
»Es mußte Ihnen mitgeteilt werden,« fiel =Dr.= Zeunemann ein, »daß
das Gericht bereits beschlossen hätte, die Anklage auf Mord gegen Sie
zu erheben, und daß Sie eine etwaige Beleidigungsklage bis zur
Beendigung des Prozesses zu verschieben hätten. Wenn Ihr erstes
Auftreten, wie ich nicht unterlassen will zu bemerken, den Schein der
Schuldlosigkeit erwecken konnte, so belastete Sie hingegen Ihr
Verhalten dem Untersuchungsrichter gegenüber in bedenklicher Weise.
So haben Sie zuerst auf die Frage, wo Sie vom 1. bis 3. Oktober
gewesen wären, die Antwort verweigert. Dann haben Sie erzählt, Sie
wären in der Absicht, sich das Leben zu nehmen, fortgefahren, an
einem beliebigen Haltepunkt ausgestiegen und dann aufs Geratewohl
querfeldein gegangen, bis Sie in eine ganz einsame Gegend gekommen
wären. An einem Flusse hätten Sie lange gelegen und mit sich
gekämpft, bis Sie darüber eingeschlafen wären. Nach vielen Stunden
festen Schlafes wären Sie ernüchtert aufgewacht, hätten sich noch eine
Weile herumgetrieben und wären dann heimgefahren. Schließlich
tauchte die Geschichte von der geheimnisvollen Dame auf. Der Born
der Phantasie sprudelt sehr ergiebig bei Ihnen.«
»Nicht so wie Sie meinen,« sagte Deruga. »Ich wollte nur den
Untersuchungsrichter ärgern und kann wohl sagen, daß mir das
gelungen ist. Er hat beinah Nervenkrämpfe bekommen.«
=Dr.= Zeunemann ließ eine Pause verstreichen, bis das Gelächter im
Publikum verstummt war, und sagte dann: »Es wundert mich, daß ein
Mann in Ihrer Lage, in Ihrem Alter und von Ihrem Verstande sich so

kindisch benehmen mag -- oder so töricht, denn vielleicht waren Ihre
verschiedenen Angaben auch nur ein Verfahren, darauf zugeschnitten,
unsicher zu machen und irrezuführen.«
»Sind Sie schon einmal von einem täppischen Untersuchungsrichter
ausgefragt worden?« fragte Deruga. »Nein, wahrscheinlich nicht. Also
können Sie nicht wissen, wie Sie sich in solcher Lage benehmen
würden. Allerdings vermutlich vernünftiger als ich. Sie haben eine
beneidenswerte Konstitution. Sie sind so recht ein Musterbeispiel, wie
der gesunde Mensch sein soll. Alle Erschütterungen durch häßliche
Eindrücke, Fragen, Zweifel und Leidenschaften werden bei Ihnen
durch eine tadellose Verdauung geregelt, so daß Sie sich immer im
stabilen Gleichgewicht befinden; ich dagegen bin unendlich reizbar.«
=Dr.= Zeunemann hatte versucht, den Angeklagten zu unterbrechen,
aber ohne genügenden Nachdruck. »Sie haben wohl auch mehr Ursache
unruhig zu sein als ich,« sagte er jetzt mit leichter Ironie. »Vielleicht
würden Sie sich wohler fühlen, wenn Sie es einmal mit vollkommener
Offenheit versuchten, anstatt sich und uns durch Ihre Winkelzüge zu
reizen.«
»Sie, Herr Präsident, will ich nicht ärgern, darauf können Sie sich
verlassen,« sagte Deruga mit einem freundlich beschwichtigenden
Tone, wie man ihn etwa einem Kinde gegenüber anschlägt.
* * * * *
»Warten Sie im Vorsaal des ersten Stockes auf mich,« flüsterte
Justizrat Fein seinem Klienten zu, als
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