Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo | Page 3

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Mitschuld nötigt. Denn in
gewissem Sinn ist das Drogenproblem tatsächlich nur ein
besonders markantes Symptom dafür, daß wir Älteren -
allgemein gesprochen - nur mangelhaft dazu in der Lage sind,
die nachwachsende Generation von den Chancen einer sinn-
vollen menschlichen Erfüllung in unserer Gesellschaft zu
überzeugen, die wir ihnen präsentieren. Es sind ja nicht die
Kinder, die aus freien Stücken in die Drogenszene oder in
fragwürdige Jugendsekten davonlaufen, sondern es ist die
Generation der Eltern, die ihnen - obschon ungewollt und
unbewußt - die soziale Entfaltung und die Unterstützung
versagt, welche die Kinder schließlich in jenen Subkulturen
suchen. Weithin ist es üblich, die Kinder gar nicht mehr mit
ihren Problemen wahrzunehmen und ihnen zuzuhören. Statt
dessen beschweren die Eltern ihrerseits die Kinder immer
mehr mit den unbewältigten eigenen Konflikten, welche die
Kinder mittragen oder, oft sogar, stellvertretend für die Eltern
lösen sollen. An Christiane z. B. ließe sich sehr genau

psychologisch nachzeichnen, wie das Mädchen unbewußt von
Mutter und Vater deren Ressentiments und deren ungestillte
Sehnsuchtsträume übernimmt - und schließlich an dieser
Überlastung auf andere Art als die Eltern scheitern muß.
Grundfalsch ist jedenfalls die Unterstellung, die Kinder berei-
teten sich ihre ausweglose Isolation erst mit ihrem Abtauchen
in die »Szene«. Die Isolation bestand immer schon vorher.
Nicht eine irgendwie geartete Kommunikationsunwilligkeit
der Kinder steht also am Anfang, sondern gerade umgekehrt
die schmerzhafte Entbehrung einer verläßlichen Verbunden-
heit mit denen, auf deren Zuwendung und Halt sie angewiesen
wären.
Aber man macht es sich wiederum zu leicht, wenn man nur
diese Mutter und jenen Vater persönlich anprangert. Durch
die Eltern hindurch und aus dem weiteren sozialen Umfeld
wirken viele übergreifende Umstände als schädliche Ursachen
mit: Verhängnisvoll ist, wie es Christiane mit seltener Prä-
gnanz beschreibt, eine Stadtplanung, die den Kommunika-
tionszerfall unter den Menschen geradezu systematisch pro-
grammiert. Die Betonwüsten vieler moderner »Sanierungsge-
biete« stapeln Menschen in einer ganz und gar künstlichen,
kalten, maschinenhaften Umwelt, die alle Konflikte, welche
die meisten Familien ohnehin hierher mitschleppen, katastro-
phal verschärft. Gropiusstadt ist nur ein Beispiel für zahlrei-
che lediglich nach technisch funktionalen Prinzipien, aber an
den emotionalen menschlichen Bedürfnissen vorbeigeplanten
Neubausiedlungen, die als Brutstätten für psychische Krank-
heiten und Verwahrlosung wirken und nicht zufällig zu
Brennpunkten von kindlichem Drogenelend und Alkoholis-
mus geworden sind. Hinzu tritt dann der Faktor eines
strukturlosen Massenbetriebes in den Schulen, bestimmt
durch Anonymität, Isolation und brutales hektisches Konkur-
rieren. Und wenn dann impulsive Kinder, die sich nicht
resignativ und abgestumpft fügen können, heimlich in eine
träumerisch verklärte Nebenwelt flüchten und nur noch
äußerlich formal an den familiären und schulischen Ritualen
teilnehmen, dann fallen sie damit oft kaum auf. Es ist überaus
charakteristisch, wie lange Christiane unbemerkt ihr Doppel-
leben führen und mit ihrer Scheinanpassung diejenigen täu-
schen kann, die zu dieser Zeit immer noch große Chancen

gehabt hätten, sie durch energisches hilfreiches Zugreifen vor
dem vollständigen Absacken zu bewahren.
Hier ist der eine Punkt, der zu den praktischen Lehren führt,
die dieser beklemmende Bericht vermitteln sollte: Fast immer
verläuft das Abgleiten als ein allmählicher, langdauernder
Prozeß, der Eltern und Lehrern an sich genügend Anhalts-
punkte dafür liefern könnte, sich hilfreich einzuschalten. Es
wäre in jedem Fall zu merken, wenn Kinder nicht mehr »ganz
da« sind und nur noch äußerlich automatenhaft im familiären
Betrieb mitspielen; wenn sie allmählich denen »fremd« er-
scheinen, die sich vorher sicher gefühlt hatten, zu spüren, was
im kindlichen Inneren vor sich geht. Dann kommt es freilich
darauf an, ob Eltern, Lehrer, Heimerzieher den inneren
Rückzug der Kinder als etwas Gefährliches erkennen wollen
oder ob sie die partielle Abwendung etwa ganz gern wegen
des Vorteils übersehen, von solchen Kindern nicht mehr mit
besonderen belastenden Ansprüchen behelligt zu werden.
Der nächste Punkt betrifft das Angebot rascher und gründli-
cher Therapie im frühestmöglichen Stadium. Wenn Eltern,
Berater oder Therapeuten und möglichst auch Lehrer eng
miteinander in einem konsequenten Betreuungskonzept zu-
sammenarbeiten, ist eine Behandlung in Form einer »Fami-
lientherapie« in einer frühen Gefährdungsphase, in der noch
keine körperliche Abhängigkeit besteht, durchaus aussichts-
reich. Natürlich ist Therapie erst recht notwendig, obschon
zunehmend schwierig, wenn erst einmal eine echte Fixierung
an harte Drogen vorliegt. Und es ist ein unverantwortlicher
Mißstand, wie sehr die Schaffung geeigneter Therapieeinrich-
tungen und die Förderung vorhandener bewährter Therapie-
angebote vernachlässigt wird. Die von gewisser politischer
Seite propagierte Strategie des »Drogenknasts«, die lediglich
auf Einsperren und Verwahren setzt (wie es heute bereits
massenhaft geschieht), bedeutet nichts anderes als eine end-
gültige zynische Aufgabe der jungen Menschen. Trotz aller
therapeutischen Probleme gibt es für eine humane Gesell-
schaft keine Alternative zu einer Mobilisierung aller erdenkli-
chen sinnvollen Hilfen zu einer Behandlung der Drogen-
krankheit. Es gibt genügend Erkenntnisse, wie man die
Motivation Betroffener stärken und wie man schließlich
Motivierte durch Langzeittherapie in bestimmten Modellen

von therapeutischen Wohngemeinschaften oder Heimen
selbst aus einer desolaten Verfassung wieder herausführen
kann. Freilich geht es in vielen Fällen um nichts weniger, als
junge Menschen
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