Candida | Page 2

George Bernard Shaw
Er sitzt in einem starken drehbaren
Stuhl mit runder Lehne am Ende eines langen Tisches, der dem Fenster
gegenübersteht, so daß er sich durch einen Blick über die linke Schulter
an der Aussicht auf den Park erfreuen kann. Am Ende des Tisches, an
diesen anstoßend, befindet sich ein zweiter Tisch, der nur halb so breit
ist und eine Schreibmaschine trägt.--Seine Schreiberin sitzt davor mit
dem Rücken gegen das Fenster. Der große Tisch ist unordentlich mit
Zeitungen, Broschüren, Briefen, Schubladeeinsätzen, einem Notizheft,

einer Briefwage und ähnlichen Dingen bedeckt. In der Mitte steht ein
übriger Stuhl für die Besucher, die mit dem Pfarrer geschäftlich zu tun
haben. Seiner Hand erreichbar steht eine Papierkassette und eine
Photographie in einem Rahmen. Die Wand hinter ihm ist mit
Bücherregalen zugestellt. Die theologische Richtung des Pfarrers kann
ein Sachverständiger an: Maurices "Theologischen Essays" und einer
vollständigen Ausgabe der Browningschen Gedichte erkennen, seine
politischen Reformideen an einem gelbrückigen Band "Fortschritt und
Armut", den "Essays der Fabier", dem "Traum John Bulls" von
William Morris, dem "Kapital" von Marx und einem halben Dutzend
anderer grundlegender sozialistischer Bücher. Dem Pfarrer gegenüber,
auf der andern Seite des Zimmers in der Nähe der Schreibmaschine, ist
die Tür. Weiter hinten, dem Kamin gegenüber, steht ein Bücherbrett
auf einem Spind, daneben ein Sofa. Ein starkes Feuer brennt im Kamin
und davor steht ein bequemer Lehnstuhl, ferner ein schwarz lackierter,
blumenbemalter Kohleneimer auf der einen Seite und ein Kindersessel
für einen Knaben oder ein Mädchen auf der anderen. Der hölzerne
Kaminsims ist lackiert, und in den kleinen Feldern der nett geformten
Fächer sind winzige Spiegelgläser eingelegt, und eine Reiseuhr in
einem Lederetui (das unvermeidliche Hochzeitsgeschenk) steht darauf.
An der Wand darüber hängt eine große Autotypie der Hauptfigur aus
Tizians Assunta. So sieht der Kamin sehr einladend aus. Im ganzen
gesehen ist es das Zimmer einer guten Hausfrau, die, was des Pastors
Arbeitstisch betrifft, an etwas Unordnung gewöhnt ist, aber trotzdem
die Situation vollkommen beherrscht. Die Einrichtung verrät in ihrem
ornamentalen Aussehen den Stil der in den Zeitungen annoncierten
"Saloneinrichtung" des unternehmenden Vorstadtmöbelhändlers; aber
es ist nichts Zweckloses oder Aufdringliches in dem Zimmer. Die
Tapeten und die Täfelung sind dunkel und lassen das große helle
Fenster und den Park draußen kräftig hervortreten.)
(Hochwürden Jakob Mavor Morell ist ein christlich-sozialer Geistlicher
der anglikanischen Kirche und ein aktives Mitglied der Gilde von
"Sankt Matthäus" und der "Christlich Socialen Union". Ein starker,
freundlicher, allgemein geachteter Mann von vierzig fahren, kräftig und
hübsch, voll Energie und mit liebenswürdigen, herzlichen,
rücksichtsvollen Manieren, mit einer gesunden, natürlichen Stimme,

die er mit der wirkungsvollen Betonung eines geübten Redners benutzt.
Er verfügt über einen großen Wortschatz, den er vollkommen
beherrscht. Er ist ein vorzüglicher Geistlicher, fähig, was er will zu
wem er will zu sagen und die Leute abzukanzeln, ohne sich über sie zu
ärgern, ihnen seine Autorität aufzudrängen, ohne sie zu demütigen und,
wenn es sein muß, sich in ihre Angelegenheiten zu mischen, ohne dabei
zu verletzen. Die Quelle seiner Begeisterung und seines Mitgefühls
versiegt niemals auch nur für einen Augenblick; er ißt und schläft noch
immer ausgiebig genug, um die tägliche Schlacht zwischen
Erschöpfung und Erholung glänzend zu gewinnen. Dabei ist er ein
großes Kind, verzeihlicherweise eitel auf seine Fähigkeiten und
unbewust selbstgefällig. Er hat eine gesunde Gesichtsfarbe, eine schöne
Stirn mit etwas plumpen Augenbrauen, glänzende und lebhafte Augen,
einen energischen Mund, der nicht besonders schön geschnitten ist, und
eine kräftige Nase mit den beweglichen, sich blähenden Nasenflügeln
des dramatischen Redners, die aber wie alle seine Züge der Feinheit
entbehrt.)
(Die Maschinenschreiberin, Fräulein Proserpina Garnett, ist eine flinke
kleine Person von ungefähr dreißig Jahren, sie gehört der unteren
Mittelklasse an, ist nett, aber billig mit einem schwarzen Wollrock und
einer Bluse bekleidet, ziemlich vorlaut und naseweis und nicht sehr
höflich in ihrem Benehmen, aber empfindungsfähig und teilnahmsvoll.
Sie klappert emsig auf ihrer Maschine drauf los, während Morell den
letzten Brief seiner Morgenpost öffnet. Er durchfliegt seinen Inhalt mit
einem komischen Stöhnen der Verzweiflung.)
(Proserpina.) Wieder ein Vortrag?
(Morell.) Ja. Ich soll nächsten Sonntagvormittag für die Freiheitsgruppe
von Hoxton sprechen. (Er betont mit großer Wichtigkeit "Sonntag",
weil das der unvernünftige Teil des Verlangens ist.) Was sind das für
Leute?
(Proserpina.) Ich glaube, kommunistische Anarchisten.
(Morell.) Es sieht den Anarchisten ähnlich, nicht zu wissen, daß sie am
Sonntag keinen Pastor haben können. Schreiben Sie ihnen, sie sollen in

die Kirche kommen, wenn sie mich hören wollen, das kann ihnen nicht
schaden! Und fügen Sie hinzu, daß ich nur Montags und Donnerstags
frei bin. Haben Sie das Vormerkbuch da?
(Proserpina hebt das Vormerkbuch auf:) Ja!
(Morell.) Ist irgendeine Vorlesung für nächsten Montag angesetzt?
(Proserpina im Vormerkbuch nachschlagend:) Der radikale Klub von
Tower Hamlet.
(Morell) Nun, und Donnerstag?
(Proserpina.) Die englische Bodenreform-Liga.
(Morell.) Was dann?
(Proserpina.) In der Gilde von Sankt Matthäus am Montag. In der
unabhängigen Arbeitervereinigung, Abteilung Greenwich, am
Donnerstag; am Montag darauf in der soziademokratischen Föderation,
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 32
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.