Briefe an eine Freundin | Page 6

Wilhelm von Humboldt
ihn vor allem in die Vorzeit und die Studien der Vorzeit zogen. Er lebte nur im Klassischen, war nur umgeben mit klassischen Werken. Die neue Lekt��re zog ihn nicht an, ja lie? ihn unbefriedigt. Damit in ��bereinstimmung war auch sein Umgang. Aus den nicht immer gelehrten, aber immer ernsten Unterhaltungen, die ich still anh?rte, nahm ich vielleicht fr��h, und fr��her als andere, den Grund meiner intellektuellen Bildung, und geno? auch fr��her, als es gew?hnlich ist, das Gl��ck, bedeutenden Personen n?her zu stehen, mit gro?er G��te behandelt und ihres Anteils gew��rdigt zu werden. Auf diese Art wurde ich, meinen nat��rlichen Anlagen gem??, fr��h zum Nachdenken gef��hrt, und mehr durch Zuh?ren als durch Unterricht, mehr durch Nachdenken als durch Kenntnisse und Talente auf den Weg der Bildung geleitet. Die ernste Richtung, die so, schon als Kind m?chte ich sagen, meine Seele nahm, sch��tzte vor vielen jugendlichen Torheiten und Frivolit?ten, n?hrte aber zugleich mehr, als es wenigstens zum Gl��ck des Lebens gut ist, den Hang zum Idealen. Dabei bildete sich mehr und mehr, denn es war schon sehr fr��h, ja schon in der Kindheit entstanden, ein hohes, beseligendes Bild von Freundschaft in mir aus, das mir das gr??te, einzige Erdengl��ck erschien. Die erste Erz?hlung, die mir durch ?fteres Lesen genau bekannt wurde und mich begeisterte, war die allerdings wundersch?ne Gesinnung und Handlungsart Jonathans gegen den zur��ckstehenden David. Alle Beispiele aus alter und neuer Zeit sammelte ich -- Richardsons Clarisse gab den vollen Ausschlag. Jeder Aufopferung f?hig, glaubte ich, nur f��r dies Gl��ck geboren zu sein, und verlangte nichts H?heres. In Pyrmont war nun diese ��berzeugung bis zur Begeisterung gesteigert und wurde bald die tiefe und unendliche Quelle vielfacher, leidenvoller Verh?ngnisse und schmerzlicher Verwickelungen. Verzeihen Sie diese Einleitung, die ich n?tig glaube, um das Folgende richtig zu beurteilen.
Nun gehe ich ��ber zu der schmerz- und ereignisschweren Vergangenheit, und von da zu der dr��ckenden und zerdr��ckenden Gegenwart, die mir eigentlich zu diesem Schritt den Mut gegeben hat. Es wird schon leichter werden, da w?hrend des Schreibens bis hierher nach und nach das seelenvolle Vertrauen zur��ckgekehrt ist, womit wir uns einst in den Pyrmonter Alleen besprachen und verstanden.?
* * * * *
Darauf folgte eine m?glichst kurz zusammengefa?te ��bersicht der haupts?chlichsten Ereignisse meines Lebens, worunter die am meisten herausgehoben und beglaubigt wurden, die mich zum Schreiben ermutigt hatten: meine gro?en Verluste an den Staat. Daran kn��pften sich Pl?ne f��r mein Fortkommen, denen aber ��berall meine zerst?rte Gesundheit, ein Mangel und Ersch?pftsein aller Lebenskr?fte entgegentraten. Das alles geh?rt nicht hierher und ist nicht erforderlich als Kommentar oder Einleitung zu den nun folgenden wertvollen Briefen, welche dadurch entstanden. Der Schlu? war dann ungef?hr so: ?Jetzt haben Sie die Umrisse meines Lebens in dem langen Zeitraum ��bersehen, geben Sie der treuen, immer schweigenden Teilnahme etwas zur��ck! Sie kennen das Herz der Frauen und wissen besser, als ich das sagen kann, wie teuer uns alles ist, was dem einst geliebten Manne angeh?rt und ihn begl��ckt. Sagen Sie mir etwas von den teuern Ihrigen, geben Sie mir etwas ab von Ihrem Gl��ck!
Jetzt schlie?e ich die vielen Bl?tter ohne Furcht. Ich lege meine Angelegenheiten an Ihr Herz, da sind sie gut aufgehoben, und es geschieht, was geschehen kann. Wie sehe ich einer Antwort entgegen, die ich gewi? empfange!?
H., den 18. Oktober 1814.

WILHELM VON HUMBOLDT
BRIEFE

Wien, 3. November 1814.
Ich habe heute fr��h Ihren Brief vom 18. Oktober erhalten, und ich kann Ihnen nicht sagen, wie mich Ihr Andenken ger��hrt und gefreut hat. Ich hatte in unserm Zusammentreffen in Pyrmont immer eine wunderbare F��gung des Schicksals erkannt, denn Sie irren sehr, wenn Sie glauben, da? Sie in einer fl��chtigen Jugenderscheinung an mir vor��ber gegangen sind. Ich dachte sehr oft an Sie, erkundigte mich auch, aber immer fruchtlos, nach Ihnen, glaubte Sie verheiratet, dachte Sie mir mit Kindern und in einem Kreise, wo Sie mich l?ngst vergessen h?tten, und bewahrte nur in mir, was mir jene Jugendtage gelassen hatten. Jetzt erfuhr ich, da? Ihr Leben viel weniger einfach gewesen ist, als ich es mir dachte. H?tten Sie mir damals geschrieben, wie Sie am meisten litten, vielleicht h?tten Ihnen meine Worte wohltun k?nnen. Glauben Sie mir, liebe Charlotte, Sie werden mir diese vertrauliche Benennung nicht ��bel deuten, da ja nur Sie und ich unsere Briefe lesen, der Mensch traut nie dem Menschen genug. So erfahre ich erst jetzt durch Sie, da? ich damals einen tieferen Eindruck auf Sie machte, als ich mir je eingebildet h?tte. Die Zeilen, die man nach so langer Zeit von sich selbst wiedersieht, sprechen einen wie aus einer anderen Welt an. Ich habe das Gl��ck, denn es ist wirklich nur ein Gl��ck, da? ich mich keiner Empfindung sch?men darf, die ich in jener Jugend hegte, und glauben Sie es mir, ich bin noch jetzt gleich einfach wie damals. Jedes Wort Ihres Briefes hat mich auf das Tiefste ergriffen, ich versetze mich ganz in Ihre
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