Belagerung von Mainz | Page 6

Johann Wolfgang von Goethe
wichtigen, so viel besprochenen Expedition Augenzeuge sein sollte. Meine Segenswünsche schienen jedoch nicht zu wirken, meine Hoffnung dauerte nicht lange: denn gar bald drehte die Masse sich auf sich selbst, man sah, da? sie keinem Steuerruder gehorchte, der Strom zog sie immer im Drehen mit sich fort. Auf der Rheinschanze oberhalb Kastel und vor derselben war alles in Bewegung, Hunderte von Franzosen rannten am Ufer aufw?rts und verführten ein gewaltiges Jubelgeschrei, als dieses trojanische Meerpferd, fern von dem beabsichtigten Ziel der Landspitze, durch den einstr?menden Main ergriffen und nun zwischen Rhein und Main gelassen und unaufhaltsam dahinfuhr. Endlich zog die Str?mung diese unbehülfliche Maschine gegen Kastel, dort strandete sie ohnfern der Schiffbrücke auf einem flachen, noch vom Flu? überstr?mten Boden. Hier versammelte sich nun das s?mtliche franz?sische Kriegsvolk, und wie ich bisher mit meinem trefflichen Fernrohr das ganze Ereignis aufs genauste beobachtet, so sah ich nun auch, leider, die Falltüre, die diesen Raum verschlo?, niedersinken und die darin Versperrten heraus und in die Gefangenschaft wandern. Es war ein ?rgerlicher Anblick: die Fallbrücke reichte nicht bis ans trockene Land, die kleine Garnison mu?te daher erst durchs Wasser waten, bis sie den Kreis ihrer Gegner erreichten. Es waren vierundsechzig Mann, zwei Offiziere und zwei Kanonen, sie wurden gut empfangen, sodann nach Mainz und zuletzt ins preu?ische Lager zur Auswechselung gebracht.
Nach meiner Rückkehr verfehlte ich nicht, von diesem unerwarteten Ereignis Nachricht zu geben; niemand wollt' es glauben, wie ich ja selbst meinen Augen nicht getraut hatte. Zuf?llig befanden sich Ihro K?nigliche Hoheit der Kronprinz in des Herzogs von Weimar Gezelt, ich ward gerufen und mu?te den Vorfall erz?hlen; ich tat es genau, aber ungern, wohl wissend, da? man dem Boden der Hiobspost immer etwas von der Schuld des Unglücks, das er erz?hlt, anzurechnen pflegt.
Unter den T?uschungen mancher Art, die uns bei unerwarteten Vorf?llen in einem ungewohnten Zustande betreffen m?gen, gibt es gar viele, gegen die man sich erst im Augenblick waffnen kann. Ich war gegen Abend ohne den mindesten Ansto? den gew?hnlichen Fu?pfad nach der Wei?enauer Schanze geritten; der Weg ging durch eine kleine Vertiefung, wo weder Wasser noch Sumpf, noch Graben, noch irgend ein Hindernis sich bemerken lie?; bei meiner Rückkehr war die Nacht eingebrochen, und als ich eben in jene Vertiefung hereinreiten wollte, sah ich gegenüber eine schwarze Linie gezogen, die sich von dem verdüsterten braunen Erdreich scharf abschnitt. Ich mu?t' es für einen Graben halten, wie aber ein Graben in der kurzen Zeit über meinen Weg her sollte gezogen sein, war nicht begreiflich. Mir blieb daher nichts übrig als drauf los zu reiten.
Als ich n?her kam, blieb zwar der schwarze Streif unverrückt, aber es schien mir vor demselbigen sich einiges hin und wider zu bewegen, bald auch ward ich angerufen und befand mich sogleich mitten unter wohlbekannten Kavallerie-offizieren. Es war des Herzogs von Weimar Regiment, welches, ich wei? nicht zu welchem Zwecke ausgerückt, sich in dieser Vertiefung aufgestellt hatte, da denn die lange Linie schwarzer Pferde mir als Vertiefung erschien, die meinen Fupfad zerschnitt. Nach wechselseitigem Begrü?en eilte ich sodann ungehindert zu den Zelten.
Und so war nach und nach das innere grenzenlose Unglück einer Stadt, au?en und in der Umgegend, Anla? zu einer Lustpartie geworden. Die Schanze über Wei?enau, welche die herrlichste übersicht gew?hrte, t?glich von einzelnen besucht, die sich von der Lage einen Begriff machen und, was in dem weiten übersehbaren Kreis vorginge, bemerken wollten, war sonn- und feiertags der Sammelplatz einer unz?hlbaren Menge Landleute, die sich aus der Nachbarschaft herbeigezogen. Dieser Schanze konnten die Franzosen wenig anhaben: Hochschüsse waren sehr ungewi? und gingen meist drüber weg. Wenn die Schildwache, auf der Brustwehr, hin und wider gehend, bemerkte, da? die Franzosen das hieher gerichtete Geschütz abfeuerten, so rief sie: "Buck!" und sodann ward von allen innerhalb der Batterie befindlichen Personen erwartet, da? sie sich auf die Knie wie aufs Angesicht niederwürfen, um durch die Brustwehr gegen eine niedrig ankommende Kugel geschützt zu sein.
Nun war es sonntags und feiertags lustig anzusehen, wenn die gro?e Menge geputzter Bauersleute, oft noch mit Gebetbuch und Rosenkranz, aus der Kirche kommend die Schanze füllten, sich umsahen, schwatzten und sch?kerten, auf einmal aber die Schildwache "Buck!" rief und sie s?mtlich flugs vor dieser gef?hrlich-hochwürdigen Erscheinung niederfielen und ein vorüberfliegendes g?ttlich-sausendes Wesen anzubeten schienen; bald aber nach geschwundener Gefahr sich wieder aufrafften, sich wechselsweise verspotteten und bald darauf, wenn es den Belagerten gerade beliebte, abermals niederstürzten. Man konnte sich dieses Schauspiel sehr bequem verschaffen, wenn man sich auf der n?chsten H?he etwas seitw?rts au?er der Richtung der Kugel stellte, unter sich dieses wunderliche Gewimmel sah und die Kugel an sich vorbeisausen h?rte.
Aber eine solche über die Schanze weggehende Kugel verfehlte nicht Zweck noch Absicht. Auf dem Rücken dieser H?hen zog sich der Weg von Frankfurt her, so da? man die Prozession von Kutschen und Chaisen, Reitern und Fu?g?ngern aus Mainz sehr gut beobachten und also zugleich
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