Ausgewaehlte Schriften | Page 5

Heinrich von Kleist
ihm notwendig müsse zerschmettert
worden sein.
An dem nächsten Scheidewege stand sie still, und harrte, ob nicht einer,
der ihr, nach dem kleinen Philipp, der liebste auf der Welt war, noch
erscheinen würde. Sie ging, weil niemand kam, und das Gewühl der
Menschen anwuchs, weiter, und kehrte sich wieder um, und harrte
wieder; und schlich, viel Tränen vergießend, in ein dunkles, von Pinien
beschattetes Tal, um seiner Seele, die sie entflohen glaubte,
nachzubeten; und fand ihn hier, diesen Geliebten, im Tale, und
Seligkeit, als ob es das Tal von Eden gewesen wäre.
Dies alles erzählte sie jetzt voll Rührung dem Jeronimo, und reichte
ihm, da sie vollendet hatte, den Knaben zum Küssen dar.--Jeronimo
nahm ihn, und hätschelte ihn in unsäglicher Vaterfreude, und verschloß
ihm, da er das fremde Antlitz anweinte, mit Liebkosungen ohne Ende
den Mund. Indessen war die schönste Nacht herabgestiegen, voll
wundermilden Duftes, so silberglänzend und still, wie nur ein Dichter
davon träumen mag. Überall, längs der Talquelle, hatten sich, im
Schimmer des Mondscheins, Menschen niedergelassen, und bereiteten
sich sanfte Lager von Moos und Laub, um von einem so qualvollen
Tage auszuruhen. Und weil die Armen immer noch jammerten; dieser,
daß er sein Haus, jener, daß er Weib und Kind, und der dritte, daß er
alles verloren habe: so schlichen Jeronimo und Josephe in ein dichteres
Gebüsch, um durch das heimliche Gejauchz ihrer Seelen niemand zu
betrüben. Sie fanden einen prachtvollen Granatapfelbaum, der seine
Zweige, voll duftender Früchte, weit ausbreitete; und die Nachtigall
flötete im Wipfel ihr wollüstiges Lied. Hier ließ sich Jeronimo am
Stamme nieder, und Josephe in seinem, Philipp in Josephens Schoß,

saßen sie, von seinem Mantel bedeckt, und ruhten. Der Baumschatten
zog, mit seinen verstreuten Lichtern, über sie hinweg, und der Mond
erblaßte schon wieder vor der Morgenröte, ehe sie einschliefen. Denn
Unendliches hatten sie zu schwatzen vom Klostergarten und den
Gefängnissen, und was sie um einander gelitten hätten; und waren sehr
gerührt, wenn sie dachten, wie viel Elend über die Welt kommen mußte,
damit sie glücklich würden!
Sie beschlossen, sobald die Erderschütterungen aufgehört haben
würden, nach La Conception zu gehen, wo Josephe eine vertraute
Freundin hatte, sich mit einem kleinen Vorschuß, den sie von ihr zu
erhalten hoffte, von dort nach Spanien einzuschiffen, wo Jeronimos
mütterliche Verwandten wohnten, und daselbst ihr glückliches Leben
zu beschließen. Hierauf, unter vielen Küssen, schliefen sie ein.
Als sie erwachten, stand die Sonne schon hoch am Himmel, und sie
bemerkten in ihrer Nähe mehrere Familien, beschäftigt, sich am Feuer
ein kleines Morgenbrot zu bereiten. Jeronimo dachte eben auch, wie er
Nahrung für die Seinigen herbeischaffen sollte, als ein junger
wohlgekleideter Mann, mit einem Kinde auf dem Arm, zu Josephen trat,
und sie mit Bescheidenheit fragte: ob sie diesem armen Wurme, dessen
Mutter dort unter den Bäumen beschädigt liege, nicht auf kurze Zeit
ihre Brust reichen wolle? Josephe war ein wenig verwirrt, als sie in ihm
einen Bekannten erblickte; doch da er, indem er ihre Verwirrung falsch
deutete, fortfuhr: es ist nur auf wenige Augenblicke, Donna Josephe,
und dieses Kind hat, seit jener Stunde, die uns alle unglücklich gemacht
hat, nichts genossen; so sagte sie: "ich schwieg--aus einem andern
Grunde, Don Fernando; in diesen schrecklichen Zeiten weigert sich
niemand, von dem, was er besitzen mag, mitzuteilen": und nahm den
kleinen Fremdling, indem sie ihr eigenes Kind dem Vater gab, und
legte ihn an ihre Brust. Don Fernando war sehr dankbar für diese Güte,
und fragte: ob sie sich nicht mit ihm zu jener Gesellschaft verfügen
wollten, wo eben jetzt beim Feuer ein kleines Frühstück bereitet werde?
Josephe antwortete, daß sie dies Anerbieten mit Vergnügen annehmen
würde, und folgte ihm, da auch Jeronimo nichts einzuwenden hatte, zu
seiner Familie, wo sie auf das innigste und zärtlichste von Don
Fernandos beiden Schwägerinnen, die sie als sehr würdige junge

Damen kannte, empfangen ward.
Donna Elvire, Don Fernandos Gemahlin, welche schwer an den Füßen
verwundet auf der Erde lag, zog Josephen, da sie ihren abgehärmten
Knaben an der Brust derselben sah, mit vieler Freundlichkeit zu sich
nieder. Auch Don Pedro, sein Schwiegervater, der an der Schulter
verwundet war, nickte ihr liebreich mit dem Haupte zu.-In Jeronimos
und Josephens Brust regten sich Gedanken von seltsamer Art. Wenn sie
sich mit so vieler Vertraulichkeit und Güte behandelt sahen, so wußten
sie nicht, was sie von der Vergangenheit denken sollten, vom
Richtplatze, von dem Gefängnisse, und der Glocke; und ob sie bloß
davon geträumt hätten? Es war, als ob die Gemüter, seit dem
fürchterlichen Schlage, der sie durchdröhnt hatte, alle versöhnt wären.
Sie konnten in der Erinnerung gar nicht weiter, als bis auf ihn,
zurückgehen. Nur Donna Elisabeth, welche bei einer Freundin, auf das
Schauspiel des gestrigen Morgens, eingeladen worden war, die
Einladung aber nicht angenommen hatte, ruhte zuweilen mit
träumerischem Blicke auf Josephen; doch der Bericht, der über irgend
ein neues gräßliches Unglück erstattet ward, riß ihre, der
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