Aus der Chronika eines fahrenden Schnlers | Page 6

Clemens Brentano
Gras
unter hohen Linden, so konnte ich schon nicht mehr begreifen, wie
dieser innre Schmerz und Zorn in mich zum ersten Male in meinem
Leben gekommen sei, und gegen die Mauer des Gartens schreitend, sah
ich an derselben in einem tiefen Bogenraum ein Heiligenhäuslein
angebracht, darinnen war wohlvergittert ein buntgemaltes Schnitzwerk,
die Anbetung der heiligen drei Könige im Stall zu Bethlehem,
aufgestellt. Davor kniete ich nieder ins Gras und betete von ganzem
Herzen. Da zerrann bald all mein Leid und meine Hoffart vor dem
Sohne Gottes, der nackt und arm in einer Krippe vor mir lag, und dem
doch die Könige dienten. Wie fühlte ich mich in meiner
Ungebärdigkeit beschämt! Und da ich mich mit Tränen angeklagt hatte,
dankte ich von ganzem Herzen dem Herrn, daß er mich armen
fahrenden Schüler nicht vergessen, und mich durch seine
Barmherzigkeit zu meinem gnädigen Herrn und Ritter gebracht, gelobte
auch, ferner mich aller Hoffart zu enthalten und die Künste, welche ich
durch seinen Beistand mit schwachen Sinnen erlernet, zur Mehrung
seines Reiches auf Erden treu anzuwenden.
Da ich nun nach solchem Gebete einen merklichen Trost in meinem
Herzen spürte, nahm ich ein gülden gewirktes Band, worauf das Ave
Maria stand, aus meinem Gebetbüchlein, und hängte es, durch das
Gitter langend, dem Bilde der Jungfrau Maria über den Arm, als das
Opfer eines törichten Menschen, der vor ihrem Sohne betend Trost
gefunden hatte. Dieses Band aber war mir das Liebste, was ich hatte.
Eine fromme Klosterfrau, meiner selgen Mutter Befreundte, hatte es
mir einst für ein Lied, das ich ihr gedichtet und gesungen, geschenket,
und war es zu Marburg an St. Elisabethen Grab angerühret worden; ich
aber hatte es bisher als einen Blattzeiger in meinem Gebetbüchlein
geführet. Dann nahm ich auch mein Mäntelein ab, und rollte es
zusammen in einen langen Wulst und flocht es durch die obern Stäbe
des Gitters vor dem Bilde, als einen aufgerollten Vorhang, zum
Gedenken meiner zeitlichen Armut, welche durch Gott sich in Freud
und Fülle gewandelt hatte. Nun wendete ich mich nach dem Garten
zurück, der mir ganz anders erschien als vorher.
So mag nichts vor dem Gemüte des Menschen bestehen, welches alles
nach sich umgestaltet. Jetzt, da ich gebetet hatte, erschienen mir alle die
roten, leibfarben und weißen Blümlein des Gartens jene Blumen, durch

die der König Ahasverus in seinem Schloßgarten zu Süsan gewandelt,
seines Zornes zu vergessen. Ja, es war mir, als sei der liebe Gott durch
diese Blumen gegangen und habe seinen gerechten Zorn über meine
Ungebärde hier an der Lieblichkeit seiner Werke gesänftiget; denn hier
an diesem ersten Morgen meines zwanzigsten Jahres ist mir vieles
Licht in der Seele aufgegangen, und ist mir der Frühling ein weiser
Lehrer geworden.
Besonders aber hat mich der hohe Münsterturm erschüttert, als ich aus
einem schattichten Baumgang hervortrat und ihn über die Dächer der
Nachbarhäuser auf mich niederschauen sah. War mir es doch im
Anfang so bange vor ihm, wie es einer Grasmücke sein muß, wenn ein
Riese den Busch über ihrem Neste öffnet und auf sie niederblickt. Alles
Menschenwerk, so es die gewöhnlichen Grenzen an Größe oder
Vollendung überschreitet, hat etwas Erschreckendes an sich, und man
muß lange dabei verweilen, ehe man es mit Ruhe und Trost genießen
kann.
Ich habe dieses aber nicht allein bei dem Anblick dieses
schwindelhohen Turmes empfunden, sondern auch bei gar lieblichen
und feinen Werken, von welchen ich nur nennen will die überaus
feinen und natürlichen Gemälde des Malers Wilhelm in Köln, der von
den Meistern als der beste Meister in allen deutschen Landen geachtet
wird, denn er malet einen jeglichen Menschen von aller Gestalt, als
lebe er. Die Werke dieses Wilhelms aber, die ich zu Köln gesehen, sind
dermaßen zart, fein, scharf und lebendig, daß man schier glauben sollte,
sie seien von Händen der Engel gemacht, und erbebet man bei ihrem
Anblick, weil sie zu leben scheinen und doch nicht leben. Man fühlet
da wohl, daß der Mensch etwas sein und schaffen kann, was viel
herrlicher ist als sein gewöhnliches Sein und Schaffen, und man
erschrickt darüber, daß diese Herrlichkeit so fremd und selten ist; daher
wohl eine Menge Sprossen auf der Leiter zu dieser Vollkommenheit
wo nicht fehlen, doch unsichtbar sein müssen und wir alle wohl tief
herunter geworfen sind.
Die gewaltige Künstlichkeit des wunderwürdigen Münsterturms hätte
mich beinahe wieder niedergeschlagen; denn ich bedachte mit
Verwunderung, wie ich doch unter den hohen Eichen, in finstern
Wäldern, auf hohen Bergen, an steilen Abgründen und bei stürzenden
Wasserfällen in einsamen Tälern recht in Einöde, ja ganz verlassen,

auch wohl gar hungrig gesessen und mich doch nicht so bewegt gefühlt
als bei dem Anblick dieses Turmes. Wenn ich die Blätter und Zweige
der Bäume betrachte, so frage ich nicht, wie sie da hinauf gekommen,
und erschrecke nicht, wenn sie sich hin und her bewegen mit Rauschen;
aber wenn ich diesen wunderbaren Turm anschaue mit seinen
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