Im Schatten der Titanen | Page 2

Lily Braun
1884.
Mein trautstes geliebtes Lilichen!
Die alten Manuskripte, die ich Dir sende, werden Dir vielleicht mehr
Last als Freude sein; sie sind nach Zeit, Stimmung, Schrift und
Abschrift so kunterbunt durcheinander, und jede Sache bedarf fast einer
Erklärung, so daß ich Dein Versprechen hinnehme, Dich und Deine

Augen, Deine Zeit und Deine Gedanken nicht damit zu quälen, sondern
sie nur als leichte Beschäftigung und Anregung zu betrachten. Ich habe,
wie Du weißt, viel verbrannt, so als Braut vier Bände Tagebücher und
später viele Kisten voll oft recht interessanter Briefe, auch die von
Scheidler, meinem Hausphilosophen, wie er sich nannte. Die Briefe an
ihn ließ ich nach seinem Tode von seiner Tochter verbrennen, ebenso
bat ich Holtei und manche andere meiner Korrespondenten darum; ich
bedaure es auch nicht: man liest kaum mehr die schönsten klassischen
Werke, wie wird man alte, vergilbte, schwierige Handschriften lesen!
Was übrig blieb, überlasse ich Dir, mein geliebtes Enkelkind, ganz und
gar, Du darfst mit alledem thun und lassen, was Du willst, ich bin damit,
wie mit Allem im Leben, außer mit meiner fast krankhaften
Mutterliebe und mit meinem immer mehr reifenden Christenthum
vollständig fertig, bin sehr unproductiv, und nur manchmal, wenn die
Anregung von außen kommt, schreibe ich Erinnerungen nieder, die Du
später auch haben sollst. Mein Bestes an Gedanken und Gefühlen legte
und lege ich in Briefen nieder. Die meisten anderen Sachen haben eine
Geschichte: Entwicklung, Klärung, unnütze oder gut ausgenutzte
Leiden, von Anderen angeregte Ueberschwänglichkeiten, von innen
verarbeitete Irrthümer. Die Aufsätze aus Wilhelmsthal hatten
persönliche Beziehungen und gehören in die Kategorie getrockneter,
gepreßter Blumen mit leisem Duft und matter Farbe. Die vier
französisch geschriebenen Charakterbilder waren die Fortsetzung
früherer, ebenfalls dem Feuertode geweihter, die unter Goethes Augen
entstanden waren und ihn interessierten. Die Art Novelle 'Gräfin Thara'
ist mein letztes Geschreibsel; sie hat mich, mit langen Unterbrechungen,
oft angenehm beschäftigt und sollte eigentlich nur eine Art Einleitung,
ein Faden sein, an den ich Erfahrungen und Ansichten reihen wollte ...
Die Beschäftigung mit den alten Manuskripten bildete ein neues Band
zwischen uns. Ich bat oft um Erklärungen, die mir mündlich und
schriftlich bereitwillig gegeben wurden, so daß nach und nach zu den
alten Schriften viele neue hinzukamen, auch die Erinnerungen, die sie
auf Anregung des Großherzogs Karl Alexander von Sachsen-Weimar,
ihres treuen Freundes, noch in ihrer letzten Lebenszeit
niedergeschrieben hatte.

Einst, als ich wenige Jahre vor ihrem Tode wieder einmal in ihrem
stillen grünen Zimmer bei ihr saß, öffnete sie das wohlbekannte Fach
ihres Schreibtisches, das in seiner vorderen Hälfte für mich immer eine
Fundgrube wunderbarer Dinge gewesen war: Ringe aus Haaren,
Broschen mit geheimnisvoll darin verschlossenen Bildchen, Gemmen
und Steine, und andere Merkwürdigkeiten hatten zu meinem
Lieblingsspielzeug gehört, um das sich tausend Träume schlangen; an
einem Miniaturbilde aber, das die Mitte eines breiten goldenen
Armreifens bildete, war mein Blick stets gebannt hängen geblieben:
einen Mann in großer Uniform, mit klassisch regelmäßigen Zügen und
dunklen, leuchtenden Augen stellte es dar. Jerome Napoleon war es,
des großen Kaisers Bruder, jenes Kaisers, den Großmutters
Erzählungen mir immer als einen Riesen der Vorzeit hatten erscheinen
lassen -- nicht als jenen bekannten Kleinkinderschreck aller guten
Preußenkinder, sondern als eine schier übermenschliche Gestalt, deren
Machtgebot eine Welt formte und beherrschte. Aus der hinteren Hälfte
des Fachs, das alle diese Wunderdinge enthielt, zog Großmutter ein
sorgfältig verschnürtes Paket hervor und gab es mir. "Bewahre es mit
dem übrigen," sagte sie, "damit es, wenn ich sterbe, nicht vernichtet
wird." Es enthielt Briefe des einstigen Königs von Westfalen an sie, die
geliebte Tochter aus seinem heimlichen Liebesbund mit einer ihm
immer unvergeßlichen Frau. Wohl hatte ich schon lange von
Großmamas Herkunft reden hören, als Kind schon hatte man mich
meines Ahnherrn wegen verhöhnt, und wenn ich an Eltern und
Verwandte schüchterne Fragen nach ihm zu richten wagte, so wurden
sie rot und schalten mich; ich wußte nie recht, ob ich stolz sein oder
mich nicht vielmehr seiner schämen sollte. Seine Briefe erst lehrten
mich ihn lieben.
Als Großmama gestorben war und ich ihre Erinnerungen der
Öffentlichkeit übergeben durfte, war es selbstverständlich meine
Absicht, ihrer Herkunft der Wahrheit gemäß zu gedenken. Aber die
engere und die weitere Familie, in deren Mitte ich lebte, entrüstete sich
nicht wenig über mein Vorhaben; sie sah ihre Ehre dadurch bedroht,
die Stellung ihrer Mitglieder in Staat und Gesellschaft gefährdet. Und
ich, der Bande des Bluts noch gleichbedeutend erschienen mit Banden
des Geistes und Herzens, fürchtete, sie durch Widerspruch zu zerreißen,

und gehorchte. Daß dieser Gehorsam der Familie gegenüber durch eine
Lüge vor der Öffentlichkeit erkauft wurde, daran dachte niemand. Nur
mich quälte sie, und in der Empfindung, daß eine Zeit kommen werde,
in der ich mein Unrecht gutzumachen vermöchte, bewahrte ich
sorgfältig die Briefe Jeromes und weigerte mich wiederholt, sie zu
vernichten. Indem ich sie nunmehr der Lebensbeschreibung meiner
Großmutter einfüge, glaube ich ihr gegenüber eine Pflicht zu erfüllen.
Und noch
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