Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo | Page 2

Not Available
man nicht mehr genau wahrnehmen, daß sich unter
der Oberfläche äußerer Anpassung in der Jugend Zeichen für
eine eigentümliche Apathie und für eine innerliche Absonde-
rungstendenz mehrten: »Solange ihr uns in unserer Welt nicht
stört, mögt ihr euch in irgendwelchen absonderlichen Lebens-
formen und >Jugendkulturen< ergehen, bis ihr einsehen wer-
det, daß ihr mitfunktionieren müßt, um in unserer unerbittlich
durchorganisierten Gesellschaft nicht unterzugehen!« Diese
eher resignativ defensive Haltung der Masse der integrierten
Älteren verkannte die demonstrierte Gleichgültigkeit und
Distanzierung vieler Kinder und Jugendlicher als ursprüngli-
ches In-Ruhe-gelassen- und Für-sich-sein-Wollen. Aber das
war seitens der Älteren nur eine erwünschte projektive
Selbsttäuschung. In Wirklichkeit haben sich Christiane wie
Hunderttausende anderer Kinder und Jugendlicher erst se-
kundär aus Enttäuschung darüber abgewendet, daß die Älte-
ren ihnen kein intaktes menschliches Zusammenleben mehr
vormachten, in das sie selbst gern mit Einfühlung, Wärme und
Verläßlichkeit einbezogen worden wären. Christiane und alle
von ihr kurzbiographisch skizzierten Freunde in den Cliquen
der Fixer und Stricher haben Eltern erlebt, die schwere eigene
Beschädigungen erfahren und - wie unbewußt auch immer -
ihre Verzweiflung, ihre äußere und innere Isolation, ihre
Gekränktheits- und Rachegefühle an ihre Kinder weitergege-
ben haben.
Oft sind es nun gerade hochsensible, verwundbare und
zugleich stolze Kinder wie Christiane, die aus den abschrek-
kenden Defekten der Elterngeneration die Konsequenz zie-
hen, sich durch Abtauchen gegen die »normalen« Anpas-
sungszwänge abschirmen und sich vor jener Selbstaufgabe
bewahren zu wollen, die ihnen die Älteren vorleben. Es ist
trostlos zu verfolgen, wie diese kleinen, gebrechlichen Wesen
in ihren Cliquen irgendeine ihren tiefen Bedürfnissen entspre-
chende Traumwelt im Untergrund verwirklichen wollen - und
letztlich darin scheitern müssen. Typisch ist, was Christiane
immer wieder in den Cliquen sucht: etwas von echter Solidari-
tät in Frieden, frei von jeder Hektik, dabei Anerkennung und

Schutz gegen Unterdrückung. »Ich bin nicht sicher, daß es
unter jungen Leuten, die nicht drogenabhängig sind, solche
Freundschaft wie in unserer Clique noch gibt.« Und daß sie
die Clique zum Schutz gerade vor den gesellschaftlichen
Institutionen sucht, die eigentlich an den ihr vorschwebenden
Wunschzielen ausgerichtet sein sollten, drückt sie in ihrer
verzweifelten Schimpfrede gegen die Schule aus: »Was heißt
hier Umweltschutz? Das fängt doch erst mal damit an, daß die
Menschen lernen, miteinander umzugehen. Das sollten wir an
dieser Scheißschule erst mal lernen. Daß der eine irgendein
Interesse für den anderen hat. Daß nicht jeder versucht, das
größere Maul zu haben und stärker zu sein als der andere, und
daß man sich nur gegenseitig bescheißt und ablinkt, um
bessere Noten zu bekommen.«
Wer sich als Leser dieses Buches mit der Annahme be-
schwichtigen möchte, was hier enthüllt werde, gebe es nur als
marginale Phänomene in der einen oder anderen Großstadt,
vielleicht gar nur in dem verruchten Berlin, dem sei gesagt:
Frühe Heroinabhängigkeit, kindlicher Alkoholismus und die
Begleiterscheinungen von kindlicher Prostitution und Dro-
genkriminalität haben weit um sich gegriffen. Aber warum
weiß man so wenig davon? Christianes Bericht nennt bereits
einige Gründe:
Kaum eine der mitwissenden und z. T. offiziell befaßten
Institutionen wie Schulen, Gesundheits- und Sozialbehörden,
Polizei, Kliniken tut etwas Gründliches oder schlägt Alarm.
Das wirkt wie eine heimliche Vereinbarung zur stillschweigen-
den Hinnähme bzw. zur bloß routinehaften Erledigung. Da
wird lediglich zugeschaut, registriert, gelegentlich eingesperrt.
Nach außen dringt nichts von dem Leiden, von der Verzweif-
lung dieser kindlichen Elendswelt. Eher bemüht man sich, die
Drogenprobleme als bloßes Produkt krimineller Schmuggler
und Händler erscheinen zu lassen, die man wie irgendein von
außen eindringendes Ungeziefer ausräuchern müßte. Gewiß
würden die zuständigen Institutionen mehr an Prävention und
Therapie leisten, wenn man sie darin endlich mehr von
politischer Seite unterstützen würde. Aber dieser politische
Beistand fehlt weithin. Das politische Handeln wiederum
steht unter dem Druck einer öffentlichen Meinung, die durch
eine allgemeine Tendenz zur Verdrängung charakterisiert ist.

Und diese Tendenz wird eifrig von denjenigen politischen
Kräften geschürt, die grundsätzlich vorurteilshaft soziales
Scheitern immer nur den Scheiternden selbst oder fremden
Verführern zur Last legen, um nicht den mindesten Schatten
auf die bestehende Ordnung fallen zu lassen.
Man hört es gerade in diesen Wochen wieder, wenn es darum
geht, den Kindern rechtlich bessere Chancen einzuräumen,
sich rechtzeitig vor den Beschädigungen in kaputten Eltern-
häusern zu bewahren - ohne Zweifel eine der Hauptursachen
des Drogenübels. Was wird da alles an Entrüstung über den
Angriff auf die »Freiheit der Eltern« geschürt, und wie
zaghaft klingen demgegenüber die Plädoyers für die Kinder,
die ihre Schutzinteressen leider nur mangelhaft vertreten
können. Aber eben auch aus diesem Grunde ist es so wichtig,
was Kai Hermann und Horst Rieck hier zuwege gebracht
haben: Nur indem geschädigten Kindern geholfen wird, sich
selbst zu äußern, können diese stellvertretend für viele andere
dafür sorgen, daß die Lage der Kinder in unserer Gesellschaft
allmählich klarer gesehen wird.
Allerdings geht es eben nicht nur um eine bessere Informa-
tion, sondern auch um eine mutigere Bereitschaft der Mehr-
heit, einen Mißstand klarer wahrzunehmen, der zu einer
Anerkennung wesentlicher eigener
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 135
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.